– Policy Brief
Warum aus gesamtwirtschaftlicher Sicht weitgehende gesundheitspolitische Massnahmen in der aktuellen Lage sinnvoll sind
Download Policy Brief PDF
Wirtschaftliche Analyse der bisher getroffenen Massnahmen
Auf Anfrage des Bundes fĂŒhrte die Task Force eine detaillierte wirtschaftliche Analyse der Notwendigkeit und der Folgen der im Zusammenhang mit der COVID-19-Epidemie getroffenen Massnahmen durch. Eine Zusammenfassung wird hier prĂ€sentiert.
Das vorliegende Dokument erlĂ€utert, warum die Ăkonominnen und Ăkonomen der Task Force sowohl die gegenwĂ€rtigen gesundheitspolitischen Massnahmen (bis 17. Januar 2021) als auch die von der Task Force Ende letzten Jahres empfohlene Ausweitung der Massnahmen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht unterstĂŒtzen. Die folgenden Punkte fassen die Ergebnisse unserer Analyse zusammen.
- Die SpitalkapazitĂ€ten sind stark ausgelastet, die Ăbersterblichkeit ist markant und die relativ rasche Impfung zunĂ€chst der vulnerablen Personen und spĂ€ter der gesamten Bevölkerung ist absehbar. In dieser Situation ist die Dauer weitgehender gesundheitspolitischer Massnahmen beschrĂ€nkt, und diese weisen ein besonders gutes Kosten-NutzenverhĂ€ltnis auf.
- In der aktuellen Lage gibt es zwei GrĂŒnde, warum auch aus ökonomischer Sicht weitgehende gesundheitspolitische Massnahmen angebracht sind: Erstens fĂŒhrt die Ăbersterblichkeit zu hohen Kosten, selbst wenn ein drohender Kollaps des Gesundheitssystems vermieden werden kann. Auch unter konservativen Annahmen ĂŒbersteigt â dank der gewonnenen Lebensjahre â der in Geldwerte umgerechnete gesundheitliche Nutzen weitergehender Lockdown- Massnahmen gemĂ€ss unserer SchĂ€tzung die wirtschaftlichen Kosten (verminderte Wertschöpfung) solcher Massnahmen, und dies je nach Wirksamkeit und Ausgestaltung der Massnahmen möglicherweise stark.
Zweitens droht wegen den ansteckenderen Mutationen des Virus eine Ăberbelastung der SpitalkapazitĂ€ten und ein deutlicher Anstieg der Krankheits- und TodesfĂ€lle. In diesem Fall ist dieses Kosten-NutzenverhĂ€ltnis von wirksamen Lockdown-Massnahmen noch einmal deutlich besser.
- Die privatwirtschaftlichen Kosten von gesundheitspolitischen Massnahmen sind geringer je stĂ€rker die EinkommensausfĂ€lle kompensiert werden. Der Zustand der Schweizer Staatsfinanzen und das niedrige Zinsniveau erlauben eine weitgehende Kompensation, zumal die ĂberbrĂŒckungszeit bis zur Massenimpfung nun absehbar ist.
- Ein sehr hoher ökonomischer (wie auch gesundheitlicher und politischer) Nutzen wird durch eine Beschleunigung der Impfungen erreicht. Jeder Tag, an dem die Schweiz die HerdenimmunitĂ€t frĂŒher erreicht, reduziert die inlĂ€ndischen Wertschöpfungsverluste substanziell.
Summary of request/problem
Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 18. Dezember 2020 folgendes Anliegen formuliert: «Das EDI wird beauftragt, dem Bundesrat bis am 13. Januar 2021 eine volkswirtschaftliche Analyse der Taskforce ĂŒber die Notwendigkeit und die Konsequenzen der bisher beschlossenen Massnahmen vorzulegen.»
Die Task Force hat dem Bundesrat seine EinschĂ€tzung am 7. Januar 2021 vorgelegt; dieser Policy Brief ist eine ĂŒberarbeitete Version, welche insbesondere die HintergrĂŒnde der Kalkulationen genauer erlĂ€utert; an den verwendeten Daten und Annahmen wurde gegenĂŒber der ursprĂŒnglichen Version nichts verĂ€ndert.1
Executive summary
Das vorliegende Dokument erlĂ€utert, warum die Ăkonominnen und Ăkonomen der Task Force sowohl die gegenwĂ€rtigen gesundheitspolitischen Massnahmen (bis 17. Januar 2021) als auch die von der Task Force Ende letzten Jahres empfohlene Ausweitung der Massnahmen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht unterstĂŒtzen.
Die folgenden Punkte fassen die Ergebnisse unsere Analysen zusammen:
- Die SpitalkapazitĂ€ten sind stark ausgelastet, die Ăbersterblichkeit ist markant und die relativ rasche Impfung zunĂ€chst der vulnerablen Personen und spĂ€ter der gesamten Bevölkerung ist absehbar. In dieser Situation ist die Dauer weitgehender gesundheitspolitischer Massnahmen beschrĂ€nkt, und diese weisen ein besonders gutes Kosten-NutzenverhĂ€ltnis auf.
- In der aktuellen Lage gibt es zwei GrĂŒnde, warum auch aus ökonomischer Sicht weitgehende gesundheitspolitische Massnahmen angebracht sind:
- Erstens fĂŒhrt die Ăbersterblichkeit zu hohen Kosten, selbst wenn ein drohender Kollaps des Gesundheitssystems vermieden werden kann. Auch unter konservativen Annahmen ĂŒbersteigt â dank der gewonnenen Lebensjahre â der in Geldwerte umgerechnete gesundheitliche Nutzen weitergehender Lockdown-Massnahmen gemĂ€ss unserer SchĂ€tzung die wirtschaftlichen Kosten (verminderte Wertschöpfung) solcher Massnahmen, und dies je nach Wirksamkeit und Ausgestaltung der Massnahmen möglicherweise stark.
- Zweitens droht wegen der ansteckenderen Mutationen des Virus eine Ăberbelastung der SpitalkapazitĂ€ten und ein deutlicher Anstieg der Krankheits- und TodesfĂ€lle. In diesem Fall ist dieses Kosten-NutzenverhĂ€ltnis von wirksamen Lockdown-Massnahmen noch einmal deutlich besser.
- Die privatwirtschaftlichen Kosten von gesundheitspolitischen Massnahmen sind geringer je stĂ€rker die EinkommensausfĂ€lle kompensiert werden. Der Zustand der Schweizer Staatsfinanzen und das niedrige Zinsniveau erlauben eine weitgehende Kompensation, zumal die ĂberbrĂŒckungszeit bis zur Massenimpfung nun absehbar ist.
- Ein sehr hoher ökonomischer (wie auch gesundheitlicher und politischer) Nutzen wird durch eine Beschleunigung der Impfungen erreicht. Jeder Tag, an dem die Schweiz die HerdenimmunitĂ€t frĂŒher erreicht, reduziert die inlĂ€ndischen Wertschöpfungsverluste substantiell.
Einleitung
Die erfreulichen Entwicklungen bezĂŒglich der VerfĂŒgbarkeit von wirksamen und sicheren Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 deuten darauf hin, dass das Ende der akuten Phase der Covid-19-Pandemie absehbar ist. Wir mĂŒssen voraussichtlich noch wenige Monate ĂŒberstehen, bis durch die Impfung der am stĂ€rksten betroffenen Risikogruppen die Gefahr eines inakzeptablen Kollapses des Gesundheitswesens und hoher Todeszahlen gebannt sein dĂŒrfte. Angesichts (i) der hohen Ansteckungszahlen, (ii) eines R-Werts nahe 1, (iii) des bereits stark ausgelasteten Gesundheitswesens, (iv) der zusĂ€tzlichen Ansteckungsgefahren durch neue Varianten des Virus, die auch in der Schweiz nachgewiesen wurden, (v) der aus der Kombination dieser Faktoren möglicherweise drohenden Ăberlastung der Intensivstationen, und (vi) der Ăbersterblichkeit, besteht jedoch die Gefahr, dass die Schweiz knapp vor dem rettenden Ufer in eine Gesundheitskrise schlittern könnte. Eine solche weitere Verschlechterung der Lage im Gesundheitssektor wĂŒrde auch den Rest der Volkswirtschaft direkt und teilweise lĂ€nger andauernd treffen (Konsum, Investitionen, Produktion, Reputation). Gesellschaftliche Auswirkungen, z.B. der Verlust des Vertrauens in Regierung und Behörden, können eine solche Negativspirale noch verstĂ€rken.
Vor diesem Hintergrund sind in einer gesamtwirtschaftlichen GĂŒterabwĂ€gung nicht nur die bis zum 17. Januar bestehenden, sondern auch weiterreichende gesundheitspolitische Massnahmen bis hin zu einem Lockdown wie im MĂ€rz/April 2020 angezeigt. Die Kosten solcher absehbar zeitlich limitierten Massnahmen sind im Vergleich zum Nutzen â der Verhinderung eines Notstandes in der Gesundheitsversorgung und einer vermeidbaren Ăbersterblichkeit â relativ gering; die mit einer solchen Strategie notwendigerweise einhergehenden Kompensationszahlungen an betroffene Arbeitnehmende wie auch Arbeitgebende sind eine gute Investition. Entscheidend fĂŒr die Ăberschaubarkeit der Kosten ist, dass möglichst rasch eine breite Impfaktion zunĂ€chst fĂŒr die Vulnerablen und gleich anschliessend fĂŒr den Rest der Bevölkerung durchgefĂŒhrt wird; hier sind zusĂ€tzliche Ressourcen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ausserordentlich gut eingesetzt.
Dieses Dokument ist wie folgt aufgebaut. Abschnitt 1 erlĂ€utert, wieso sich die Lage zum Jahresbeginn anders prĂ€sentiert als im vergangenen Herbst. Abschnitt 2 diskutiert, wie die drohende Ăberlastung des Gesundheitssystems den allfĂ€lligen Zielkonflikt zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Kosten weiter relativiert. Abschnitt 3 zeigt anhand einer quantitativen AbschĂ€tzung, dass die Kosten der aktuellen Ăbersterblichkeit in der Schweiz hoch sind, so dass weitergehende Massnahmen gegenĂŒber den am 22. Dezember umgesetzten Schritten rechtfertigten, auch wenn das Gesundheitssystem nicht in die Ăberlastung kippen sollte. Abschnitt 4 wiederholt den von der Task Force schon an anderer Stelle ausgefĂŒhrten Grundsatz, dass die gesundheitspolitisch motivierten EinschrĂ€nkungen substanzielle Kompensationsmassnahmen an wirtschaftlich Betroffene rechtfertigen. Schliesslich wird in Abschnitt 5 die grosse wirtschaftliche Bedeutung einer möglichst raschen und umfassenden Impfkampagne erlĂ€utert.
1. Was ist heute anders als im Herbst?
Nach dem im internationalen Vergleich erfolgreichen und teilweise auf Selbstverantwortung bauenden Massnahmenpaket im FrĂŒhjahr wurden in der Schweiz sehr rasch weitgehende Ăffnungsschritte unternommen. Bis weit in den Herbst hinein schienen die Fallzahlen auf den ersten Blick eine auf geringe Restriktionen bauende Strategie zu rechtfertigen. Der R-Wert stieg allerdings bereits im Sommer wieder ĂŒber 1 an. Im Verlaufe des Novembers bis heute haben sich drei Dinge grundlegend geĂ€ndert. Erstens wechselten wir schnell in Richtung einer Situation mit stark ausgelastetem Gesundheitssystem und markanter Ăbersterblichkeit. Zweitens gab es die sehr guten Nachrichten ĂŒber die rasche Entwicklung von wirksamen Impfstoffen. Drittens droht die Ausbreitung von Virusvarianten mit höherer Ăbertragbarkeit. Aus diesen GrĂŒnden stellt sich ein allfĂ€lliger Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit heute anders dar. Eine etwas liberalere Haltung bei den gesundheitspolitischen Massnahmen hat in der jetzigen Lage rasch den Preis einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit eines dramatischen Zusammenbruchs des Gesundheitssystems und eines weiteren Anstieges der bereits signifikanten Ăbersterblichkeit. Aus individueller Sicht steigen zudem steigen die Kosten einer Erkrankung, je nĂ€her der Zeitpunkt einer möglichen Impfung rĂŒckt. FĂŒr individuelle Menschen und ihre Angehörigen wĂ€re es besonders tragisch, kurz vor der schĂŒtzenden Impfung zu erkranken und unter UmstĂ€nden zu sterben. Weitergehende gesundheitspolitische Massnahmen haben auch aus diesem Grund an AttraktivitĂ€t gewonnen.
Wie stark sich weitgehende gesundheitspolitische Massnahmen zur EindĂ€mmung der Pandemie wirtschaftlich lohnen, hĂ€ngt von verschiedenen Faktoren ab: erstens von der Auslastung des Gesundheitssystems, insbesondere der Intensivstationen, und dem Grad der Ăbersterblichkeit, zweitens vom Niveau und der Dynamik der Ansteckungszahlen, drittens von der voraussichtlichen Dauer und Wirksamkeit der gesundheitspolitischen Massnahmen, und viertens vom fiskalischen Potential, EntschĂ€digungsmassnahmen fĂŒr von den EinschrĂ€nkungen Betroffene zu leisten.
Werden diese Faktoren mit der heutigen Situation in der Schweiz konfrontiert ist klar, dass â Stand Anfang 2021 â die Voraussetzungen fĂŒr weitgehende gesundheitspolitische Massnahmen geradezu idealtypisch erfĂŒllt sind:
- Starke Auslastung der medizinischen KapazitĂ€ten und im internationalen Vergleich hohe Ăbersterblichkeit.
- Sehr hohe Ansteckungszahlen, kombiniert mit einem R-Wert nahe 1 in allen Kantonen; Gefahr, dass die Mutationen des Virus diesen Wert bald nach oben drĂŒcken könnten.
- Anlaufende Impfkampagne mit der Aussicht, die besonders Vulnerablen und spÀter die gesamte Bevölkerung in relativ naher Zukunft impfen zu können.
- Tiefe Staatsschuldenquote, grosser AngebotsĂŒberhang auf dem Kapitalmarkt, und bisher im internationalen Vergleich moderate Kosten der PandemiebekĂ€mpfung.
Â
Wird die aktuelle Situation mit derjenigen im FrĂŒhjahr verglichen, liegen heute wohl noch stĂ€rkere GrĂŒnde fĂŒr weitergehende gesundheitspolitische Massnahmen vor als damals. Insbesondere reduziert die absehbare KĂŒrze der Massnahmendauer die Kosten, und der aktuelle Zustand der Gesundheitsversorgung erhöht den Nutzen im Vergleich zum FrĂŒhjahr.
2. Die Auslastung des Gesundheitssystems und dessen Relevanz fĂŒr Zielkonflikte zwischen Gesundheit und Wirtschaft
3. Die Kosten und Nutzen von weitergehenden Massnahmen hinsichtlich der Reduktion der Ăbersterblichkeit
Kosten und Nutzen weitergehender Massnahmen monetĂ€r zu bewerten ist ausserordentlich schwierig und beruht notwendigerweise auf starken Annahmen. Kaum monetisieren lĂ€sst sich das Risiko eines Zusammenbruchs des Gesundheitssystems, also der ersten Gefahr, die in der aktuellen Lage besteht. FĂŒr die zweite Gefahr, die der anhaltenden Ăbersterblichkeit, lassen sich aber gewisse AbschĂ€tzungen vornehmen.
Im Folgenden zeigen wir auf, mit welchen Parametern sich Kosten und Nutzen von weitergehenden Massnahmen grob quantitativ abschĂ€tzen lassen. Dabei ziehen wir einerseits sowohl die Erfahrungen aus dem ersten Lockdown im FrĂŒhjahr 2020 als auch die neusten Erkenntnisse wĂ€hrend der zweiten Welle heran, um eine Bandbreite der wahrscheinlichen Einbussen der Wertschöpfung (wirtschaftliche Kosten) zu ermitteln, die im Falle zusĂ€tzlicher gesundheitspolitischer Massnahmen entstehen wĂŒrden. Andererseits stĂŒtzen wir uns auf die Angaben von EpidemiologInnen, um abzuschĂ€tzen, wie sich weitere Massnahmen und deren Dauer auf die Anzahl der Infektionen und der TodesfĂ€lle und schliesslich den gesundheitlichen Nutzen auswirken können.
Zu betonen ist, dass solche Szenarien (epidemiologisch und wirtschaftlich) immer mit grosser Unsicherheit behaftet sind, was sich bereits an den grossen Bandbreiten der SchĂ€tzungen zeigt. Des Weiteren beruhen unsere SchĂ€tzungen auf der Grundannahme, dass die Epidemie beherrschbar bleibt und die Schweiz nicht in ein Szenario gerĂ€t, bei dem stark ansteigende Infektionszahlen (zum Beispiel auf Grund von ansteckenderen Virus-Mutationen) zu einer katastrophalen Ăberlastung des Gesundheitssystems fĂŒhren. In diesem Sinne mĂŒssen die SchĂ€tzungen als konservativ betrachtet werden, da sie solche Risikoszenarien nicht berĂŒcksichtigen.
Man beachte weiter, dass wir die Kosten und Nutzen weiterer Massnahmen nur in einer engen Weise bewerten können. Wir berĂŒcksichtigen Wertschöpfungsverluste in der Wirtschaft, sowie die in der Schweiz gelĂ€ufigen SchĂ€tzungen zum Wert von geretteten Lebensjahren. Nicht berĂŒcksichtigt ist die individuell empfundene Verminderung der LebensqualitĂ€t durch EinschrĂ€nkungen eines Lockdowns, aber auch die Verbesserung der LebensqualitĂ€t wenn eine erfolgreiche Reduktion der Infektionen fĂŒr geringere Unsicherheit und weniger Angst um das Leben von nahestehenden Personen sorgt. DarĂŒber hinaus ist schwer abzuschĂ€tzen, wie hoch der zumindest vorĂŒbergehende Verlust an LebensqualitĂ€t fĂŒr die Infizierten ist, die nicht an der Virusinfektion sterben, und wie gross die Rehabilitationskosten fĂŒr das Gesundheits- und Sozialsystem sind. Auch die Folgekosten durch «Longcovid» (Gesundheitskosten, (Teil-)InvaliditĂ€t) sind noch kaum abzuschĂ€tzen.
Annahmen der berechneten Szenarien
Es wĂ€re verlockend, eine Welt mit Massnahmen mit einer Welt ohne Virus zu vergleichen. Aber diese Wahl haben wir nicht. Wir mĂŒssen uns entscheiden zwischen einer Welt mit einem Virus und strengen Massnahmen und einer Welt mit einem Virus und weniger strengen Massnahmen. Unser Referenzszenario geht davon aus, dass die am 22. Dezember implementierten gesundheitspolitischen Massnahmen beibehalten und die Infektions- und Todeszahlen konstant bleiben. Wir vergleichen diese Situation mit der EinfĂŒhrung von strengeren Massnahmen analog zum Lockdown vom FrĂŒhjahr 2020 und schĂ€tzen den potenziellen Nutzen dieser Massnahmen im Hinblick auf eine Reduzierung Corona-bedingter TodesfĂ€lle, sowie die zusĂ€tzlichen Kosten solcher Massnahmen fĂŒr die Wirtschaft.
Unser Referenzszenario geht davon aus, dass der Reproduktionswert des Virus in den nÀchsten vier Monaten konstant bei R=1 bleibt. In diesem Fall liegt die Anzahl der TodesfÀlle in den nÀchsten vier Monaten konstant beim Status quo (etwa 80 TodesfÀlle pro Tag).
Das Alternativszenario geht davon aus, dass vorĂŒbergehende strengere Massnahmen analog zum Lockdown vom FrĂŒhjahr 2020 zur Anwendung kommen. Die ungewisse IntensitĂ€t bzw. EffektivitĂ€t eines Lockdowns berĂŒcksichtigen wir, indem wir im Alternativszenario die Halbwertszeit bezĂŒglich der Anzahl der TodesfĂ€lle entweder auf 2 Wochen (R=0.78; Wirksamkeit der Massnahmen «hoch») oder auf 4 Wochen (R=0.9; Wirksamkeit der Massnahmen «tief») setzen.6
Der Nutzen: Gerettete Lebensjahre und ihre monetÀre Bewertung
Tabelle 1 in Anhang zeigt die Anzahl der TodesfĂ€lle in den nĂ€chsten 4 Monaten, die durch einen Lockdown von 4 bis 10 Wochen vermieden werden könnten. Je nach Dauer und Wirksamkeit des Lockdowns wĂŒrde diese Zahl unter den obigen Annahmen zwischen 3â200 und 5â700 Personen liegen. Setzt man die durchschnittliche erwartete weitere Lebensdauer an der Menschen, die zurzeit in der Schweiz an COVID- 19 sterben (ca. 5.4 bis 6.8 Jahre, siehe Anhang 2), so ergibt sich im höheren Fall ein gesundheitlicher Nutzen von etwa 30â900 bis 38â900 gewonnenen Lebensjahren, im niedrigeren Fall von etwa 17â400 bis 21â900 gewonnen Lebensjahren.
Obwohl es ethisch schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, einem Menschenleben einen monetĂ€ren Wert beizumessen, haben ĂkonomInnen und JuristInnen in der Vergangenheit verschiedene Methoden entwickelt, um den Wert eines «statistischen Lebens» zu berechnen. Diese Methoden bewerten indirekt, wie viel es fĂŒr Menschen und die Gesellschaft wert ist, das Sterblichkeits- oder Krankheitsrisiko zu reduzieren. Dieser Ansatz wird heute als Standard in der Regulierungspolitik verwendet und wird auch regelmĂ€ssig bei der Zulassung neuer Medikamente und medizinischer Interventionen eingesetzt.
In der Literatur gibt es verschiedene SchĂ€tzungen des Wertes eines statistischen Lebens, aber hier orientieren wir uns an zwei Werten, die in der Schweiz anerkannt oder durch die Rechtsprechung definiert sind. Erstens verwenden wir in einem «administrativen» Ansatz den Geldwert von CHF 100â000 als «angemessene» medizinische Kosten pro gewonnenem Lebensjahr gemĂ€ss einem Bundesgerichtsurteil von 2010.7 Zweitens verwenden wir in einem «statistischen» Ansatz den monetĂ€ren Wert von CHF 250â000 eines Lebensjahres gemĂ€ss dem «Value of Statistical Life»-Ansatz, wie er vom Bundesamt fĂŒr Raumentwicklung ARE empfohlen wird als Richtwert fĂŒr die Zahlungsbereitschaft fĂŒr die Verminderung von Unfall- und Gesundheitsrisiken in der Schweiz angewendet wird.8 Zu bedenken ist dabei, dass wir in dieser Berechnung nur die Kosten von TodesfĂ€llen, nicht aber die Kosten von gesundheitlichen Problemen von Ăberlebenden einer Covid-19-Erkrankung einbeziehen.
Mit diesen Werten erhĂ€lt man verschiedene untere und obere Grenzen fĂŒr eine monetĂ€re Bewertung der vermiedenen TodesfĂ€lle und gesundheitlichen BeeintrĂ€chtigungen. Wenn die vermiedenen TodesfĂ€lle zu einem niedrigen Kostensatz bewertet werden, dann resultiert je nach Wirksamkeit der Massnahmen fĂŒr einen Lockdown von 4 Wochen Dauer ein Wert von 1.7 bis 3.3 Mrd. CHF an gesundheitlichem Nutzen fĂŒr vermiedene TodesfĂ€lle. Wenn dagegen der höhere Ansatz fĂŒr den Wert von Lebensjahren herangezogen wird, so liegt der gesundheitliche Wert eines Lockdowns von 4 Wochen im Hinblick auf vermiedene TodesfĂ€lle zwischen 4.3 und 8.2 Mrd. CHF.
Je lÀnger ein Lockdown dauert, desto grösser wird die Zahl der vermiedenen TodesfÀlle und der Wert der vermiedenen gesundheitlichen SchÀden. Der Grenznutzen eines Lockdowns nimmt jedoch mit der Dauer der Massnahmen ab; d.h. der zusÀtzliche Nutzen in Form von Anzahl oder Àquivalentem Geldwert der vermiedenen TodesfÀlle verringert sich mit jeder zusÀtzlichen Woche des Lockdowns.
Die wirtschaftlichen Kosten
Mit Hilfe von Daten und Analysen der KOF (ETH ZĂŒrich) versuchen wir abzuschĂ€tzen, wie hoch die zusĂ€tzlichen Einkommensverluste sein könnten, die mit solchen strengeren Massnahmen einhergehen wĂŒrden. Weil nur die zusĂ€tzlichen Effekte eines weitergehenden Lockdowns modelliert werden, wird die Auslandsnachfrage nicht berĂŒcksichtigt, ebenso wenig wie die EinkommensausfĂ€lle, die durch das bereits vorhandene Verhalten der Bevölkerung und die seit dem 22.12.2020 geltenden Massnahmen verursacht werden. Es wird also davon ausgegangen, dass Massnahmen innerhalb der Schweiz keine wesentliche Wirkung auf die Auslandsnachfrage haben, und dass das Bevölkerungsverhalten zwischen dem Basis- und Alternativszenario konstant bliebe. Unser Alternativszenario nimmt an, dass zu den seit 22.12.2020 gĂŒltigen Massnahmen weitere einschneidende EinschrĂ€nkungen Ă€hnlich wie im FrĂŒhjahr 2020 hinzukommen. Die wirtschaftlichen Kosten beziehen sich ausschliesslich auf die zusĂ€tzlichen kurzfristigen Wertschöpfungsverluste, die durch die Erweiterung von EindĂ€mmungsmassnahmen entstehen.
Die KOF schĂ€tzt somit den zusĂ€tzlichen Verlust an wirtschaftlicher Wertschöpfung in der Schweiz bei einem strengeren Lockdown auf zirka 1.4-1.8 Mrd. CHF pro Monat. Die Kostenspanne widerspiegelt unter anderem die Unsicherheit der WertschöpfungsausfĂ€lle im Detailhandel, die teilweise durch steigende Online-VerkĂ€ufe wettgemacht werden dĂŒrften. Zudem ist nicht klar, ob im Hinblick auf Schutz- und Hygiene-Massnahmen auf gewisse Schliessungen in der Unterhaltungsbranche sowie bei persönlichen Dienstleistungen verzichtet werden kann.
Anders als bei den TodesfÀllen steigen die wirtschaftlichen Kosten zumindest kurzfristig linear mit der Dauer des Lockdowns.
In den Berechnungen nicht berĂŒcksichtigte Kosten und Nutzen
Wie bereits angesprochen beruhen die Berechnungen notwendigerweise auf zahlreichen Annahmen. Dazu kommt, dass gewisse Kosten und Nutzen von weitergehenden gesundheitspolitischen Massnahmen sich einer ĂŒberzeugenden Quantifizierung weitgehend entziehen. Wir diskutieren qualitativ, wie sich die folgenden Aspekte auf unsere Kosten-Nutzen Betrachtung auswirken könnten:
- ZusÀtzliche Staatsverschuldung
- Psychische Kosten
- LÀngerfristige gesundheitliche EinschrÀnkungen
- Lerndefizite bei SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern
Was die Staatsverschuldung betrifft, so schĂ€tzt die KOF, dass bei einem weitgehenden Lockdown die Verschuldung des Bundes um zusĂ€tzliche 1.4 bis 2.8 Mrd. CHF pro Monat ansteigt. Ohne diese zusĂ€tzliche Verschuldung wĂ€re der Verlust an Wertschöpfung und Einkommen deutlich höher. In einer Kosten-Nutzen-Betrachtung darf man diese erhöhte Verschuldung jedoch nicht einfach zur Reduktion der Wertschöpfung addieren. Die Staatsschulden fĂŒhren mittelfristig zu wirtschaftlichen Kosten im Umfang der Zinsen, die auf den zusĂ€tzlichen Schulden zu entrichten sind. Auf neu aufgelegte Schweizer Staatsschulden liegen diese Zinsen heute unter null Prozent. Damit die erwarteten Kosten der Schulden tatsĂ€chlich bei null liegen, mĂŒsste es jedoch möglich sein, die Schulden auch in Zukunft jederzeit zu null Prozent zu erneuern und sie nie zurĂŒckzuzahlen. Beides wĂ€ren Extremannahmen; niemand kann prognostizieren, wie sich die Zinsen langfristig entwickeln werden.  Die Entwicklung der Staatsschuldenquote hĂ€ngt allerdings von der Differenz zwischen der realen Wachstumsrate und den Realzinsen ab: solange Realzinsen unter der Wachstumsrate liegen, sinkt die Schuldenquote ohne zusĂ€tzliche Sparanstrengungen oder Steuererhöhungen. Die Vorgaben der Schuldenbremse erfordern aber eine RĂŒckzahlung der Schulden, auch wenn man diese mit entsprechenden ParlamentsbeschlĂŒssen weit in die Zukunft verlegen kann. Insgesamt können die Schulden trotz dem aktuell gĂŒnstigen Zinsumfeld gewisse lĂ€ngerfristige Kosten verursachen. Diese Kosten sollten jedoch sehr gering ausfallen im Vergleich zu den Wertschöpfungsverlusten, die in unserer Kosten-Nutzen-Rechnung explizit berĂŒcksichtigt sind. Bedenkt man ausserdem, dass die Schweiz eine der weltweit tiefsten Staatsschuldenquoten aufweist und auch die Kosten der bisherigen PandemiebekĂ€mpfung im internationalen Vergleich eher tief waren, so ist klar, dass von Seiten der Staatsfinanzen einige weitere Monate zusĂ€tzlicher Ausgaben in einer Jahrhundertkrise gut verkraftbar sind.
Kein Zweifel besteht darĂŒber, dass die Pandemie und ihre BekĂ€mpfung bei vielen Menschen substanzielle psychische Kosten verursachen. Diese sind jedoch schwer zu quantifizieren, und es gilt zu beachten, dass staatliche Massnahmen zur Senkung der Infektionszahlen diese Kosten sowohl erhöhen als auch verringern können. ZusĂ€tzliche gesundheitspolitische Massnahmen erhöhen die psychischen Kosten dadurch, dass ein Lockdown Vereinsamung schafft sowie Existenzsorgen bei Unternehmen und ihren Mitarbeitenden. Wenn auf Grund der Massnahmen die Infektionszahlen zurĂŒckgehen, dann sinken dadurch jedoch auch die psychischen Kosten, die durch die Furcht vor Krankheit und Tod oder die Sorge um erkrankte Familienmitglieder hervorgerufen werden. Ausserdem lĂ€sst sich die psychische Belastung der Mitarbeitenden in ĂŒberlasteten SpitĂ€lern oder Heimen reduzieren. Ohne dass sich das quantifizieren liesse, legen diese ErwĂ€gungen nahe, dass sich die Kosten und Nutzen zusĂ€tzlicher Massnahmen im Hinblick auf die psychische Verfassung der Menschen zumindest teilweise ausgleichen.
Unsere Berechnung des gesundheitlichen Nutzens von Lockdown-Massnahmen basiert auf einer SchĂ€tzung der dadurch vermiedenen TodesfĂ€lle, bzw. einer monetĂ€ren Bewertung des vermiedenen Verlustes von Lebensjahren. Sie berĂŒcksichtigt nicht explizit, dass die QualitĂ€t der Lebensjahre durch lĂ€ngerfristige gesundheitliche EinschrĂ€nkungen beeinflusst werden kann. Die durch Covid-19 verursachten TodesfĂ€lle betreffen oft Menschen, die bereits vorbestehende gesundheitliche Leiden aufweisen. Dementsprechend kann man argumentieren, dass durch gesundheitspolitische Massnahmen Lebensjahre hinzugewonnen werden, die nur eine reduzierte LebensqualitĂ€t erlauben. DemgegenĂŒber steht die Beobachtung, dass eine Covid-19-Erkrankung bei einem Teil der Ăberlebenden lĂ€nger andauernde gesundheitliche BeeintrĂ€chtigungen hervorruft, die als «Longcovid» beschrieben werden. Da das Virus erst vor etwa einem Jahr erstmals aufgetreten ist, lassen sich die langfristigen GesundheitsschĂ€digungen sowie die damit verbundenen Kosten jedoch noch kaum ĂŒberzeugend abschĂ€tzen. Weil es bei Covid-19-Erkrankungen viel mehr Ăberlebende als Verstorbene gibt, können langfristige gesundheitliche EinschrĂ€nkungen bei einem kleinen Teil der Ăberlebenden bereits erhebliche Kosten verursachen, die auch im Vergleich mit den Kosten der TodesfĂ€lle ins Gewicht fallen.9 Gesundheitspolitische Massnahmen, welche die Zahl der Covid-19 Erkrankungen senken, fĂŒhren also einerseits zu einem Gewinn von Lebensjahren, deren QualitĂ€t bei manchen Menschen durch Vorerkrankungen beeintrĂ€chtigt sein werden, andererseits vermeiden sie aber auch eine mögliche lĂ€ngerfristige Verringerung der LebensqualitĂ€t und zusĂ€tzliche Gesundheitskosten bei Ăberlebenden einer Covid-19-Erkrankung. Der «statistische» Ansatz, wie er vom Bundesamt fĂŒr Raumentwicklung ARE empfohlen wird, könnte auch so interpretiert werden, dass die letztgenannten Gesundheitskosten zumindest teilweise mitberĂŒcksichtigt werden und erscheint uns daher realistischer als der «administrative» Ansatz.
Wir klammern zudem Wertschöpfungsverluste durch Covid-19-Tote bewusst aus. Aus einer eng betriebswirtschaftlichen Produktionsperspektive könnte man einwenden, dass TodesfĂ€lle von arbeitsfĂ€higen Menschen stĂ€rker ins Gewicht fallen als TodesfĂ€lle von Menschen im Rentenalter oder mit schweren Behinderungen. Aus einer eng finanzpolitischen Sicht könnte man gar anfĂŒhren, dass solche TodesfĂ€lle die Sozialwerke entlasten. Anderseits gibt es Modelle, die implizieren, dass Ă€ltere Menschen eine höhere Zahlungsbereitschaft haben fĂŒr eine gegebene VerlĂ€ngerung der Lebenserwartung (Rosen, 1988). Wir folgen der ĂŒblichen Annahme, dass der Grenznutzen eines zusĂ€tzlichen gesunden Lebensjahrs nicht vom Alter oder Arbeitsmarktstatus abhĂ€ngt (s. z.B. Viscusi und Aldy, 2003). Dahinter liegt auch ein normativer Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen-Lebensjahre.
EnthĂ€lt ein Lockdown wie in unseren Berechnungen auch Schulschliessungen oder â genauer â den Ăbergang zu Onlineunterricht, so entstehen langfristig zusĂ€tzliche Kosten in Form einer Reduktion des akkumulierten Humankapitals und einer grösseren Bildungsungleichheit. Das Ausmass dieser Kosten hĂ€ngt entscheidend und wohl nicht-linear von der Dauer der gesundheitspolitischen Massnahmen ab. FĂŒr die hier erwogenen kĂŒrzeren Lockdowns dĂŒrften sie nicht dominant sein, da gewisse LernrĂŒckstĂ€nde spĂ€ter auch wieder aufgeholt werden können. Eine explizite Quantifizierung dieser Kosten fĂ€llt jedoch schwer.
Â
Vergleich zwischen Kosten und Nutzen
Unsere groben SchĂ€tzungen (wie in Anhang 1 nĂ€her dargestellt) legen nahe, dass in dieser deterministischen Betrachtung der gesundheitliche Nutzen eines neuerlichen Lockdowns die ökonomischen Kosten in der Regel ĂŒbertrifft, insbesondere bei einer zeitlich absehbaren Dauer der Massnahmen.
Zum Beispiel: Ein 4-wöchiger Lockdown wĂŒrde bereits bei einer eher geringen Wirksamkeit der Massnahmen (Szenario «tief» mit R=0.9) einen gesundheitlichen Nutzen zwischen 1.7 und 5.4 Mrd. CHF generieren durch die Verminderung von vorzeitigen TodesfĂ€llen, wĂ€hrend dieses Szenario mit Kosten zwischen 1.4 bis 1.8 Mrd. CHF an Wertschöpfungsverlusten einhergehen wĂŒrde. Verwendet man die Mittelwerte dieser Bandbreiten, so entsprĂ€che der gesundheitliche Nutzen also mehr als dem Doppelten der wirtschaftlichen Kosten. Bei einer hohen Wirksamkeit der Massnahmen (Szenario «hoch» mit R=0.78) steigt der gesundheitliche Nutzen auf 2.6 bis 8.2 Mrd. CHF, wĂ€hrend die Kosten weiterhin im Bereich von 1.4 bis 1.8 Mrd. CHF liegen wĂŒrden.
Unser Referenzszenario geht gemĂ€ss Daten von Anfang Januar von einer konstanten tĂ€glichen Zahl von tĂ€glich 80 TodesfĂ€llen aus. Der geschĂ€tzte Nutzen der Massnahmen durch verhinderte TodesfĂ€lle wĂŒrde linear zu- bzw. abnehmen, wenn ein konstant höherer bzw. niedrigerer Wert angenommen wĂŒrde. Damit das Mittel unserer SchĂ€tzungen fĂŒr den gesundheitlichen Nutzen eines 4-wöchigen Lockdowns (Durchschnitt von niedriger Wirksamkeit von Massnahmen bei geringer Bewertung von Leben, sowie hoher Wirksamkeit und höherer Bewertung) unter den Mittelwert der geschĂ€tzten Kosten fĂ€llt, mĂŒsste die konstante Zahl der tĂ€glichen TodesfĂ€lle unterhalb von 26 liegen. Laut Daten des BAG lag die Zahl der TodesfĂ€lle jedoch an jedem Tag von Anfang November bis Mitte Januar oberhalb dieses Wertes.
VerÀnderung des Kosten-Nutzen VerhÀltnisses bei steigenden Ansteckungszahlen
Die obige Kosten-Nutzen-Rechnung geht von einem Referenzszenario aus, in dem die Ansteckungs- und Todeszahlen ohne weitergehende gesundheitspolitische Massnahmen konstant bleiben wĂŒrden (R=1). Es besteht jedoch die berechtigte Sorge, dass es stattdessen zu einem Anstieg der Fallzahlen kommen könnte. Dies wĂ€re insbesondere der Fall, wenn sich die bereits in der Schweiz festgestellten, leichter ĂŒbertragbaren neuen Virusmutationen weiter ausbreiten, so wie das bereits in England geschehen ist. Der wissenschaftliche Lagebericht der Swiss Covid-19 Science Task Force vom 29. Dezember 2020 (NCS-TF (2020b)) zeigt, dass je nach Verbreitungsgeschwindigkeit der neuen Mutationen ein massiver Anstieg der Infektionszahlen ab Februar oder MĂ€rz 2021 befĂŒrchtet werden muss.
Ein solcher Anstieg der Fallzahlen wĂŒrde dramatische Konsequenzen haben. Da das Gesundheitssystem bereits in der NĂ€he seiner KapazitĂ€tsgrenze operiert (mit hoher Belastung fĂŒr das Gesundheitspersonal sowie dem Aufschieben der Behandlung von gewissen nicht-Covid-19 Patienten), droht bei zusĂ€tzlichen Infektionen ein Kollaps des Gesundheitssystems mit erheblich negativen Auswirkungen auf die Volksgesundheit und auf die WirtschaftstĂ€tigkeit. Der Bevölkerung droht in dieser Situation nicht nur eine hohe Ansteckungsgefahr, sondern auch eine ungenĂŒgende medizinische Betreuung im Krankheitsfall.
Wie wĂŒrde sich unsere Kosten-Nutzen-Rechnung verĂ€ndern, wenn wir dementsprechend von einem Referenzszenario mit ansteigenden anstatt konstanten TodesfĂ€llen ausgehen wĂŒrden? Der gesundheitliche Nutzen von zusĂ€tzlichen gesundheitspolitischen Massnahmen ist in diesem Fall deutlich grösser. Das ist deshalb der Fall, weil bei einem Referenzszenario mit einer wesentlich höheren Zahl von TodesfĂ€llen jede Massnahme, welche die TodesfĂ€lle prozentual reduziert, eine grössere Zahl von Menschleben schĂŒtzt. Dieser Zusammenhang besteht auch dann, wenn ein Lockdown erfolgt, bevor sich die neuen Virusmutationen stark verbreitet haben. Wenn es zum Beispiel gelingt, die tĂ€glichen TodesfĂ€lle bis Ende Februar zu halbieren, dann beginnt eine anschliessende prozentuale Zunahme der TodesfĂ€lle basierend auf einem kleineren Ausgangsniveau, womit viele vorzeitige TodesfĂ€lle vermieden werden.
Bei steigenden Ansteckungszahlen, die vom Gesundheitssystem nicht mehr bewĂ€ltigt werden können, wird in der Bevölkerung die Angst vor einer Virusinfektion zunehmen. Viele Menschen werden deshalb auch ohne staatliche Verbote selbstĂ€ndig ihre EinkĂ€ufe in LĂ€den oder ihre Aufenthalte in Hotels reduzieren. Auf Grund dieser Verhaltensanpassung fallen die zusĂ€tzlichen wirtschaftlichen Kosten, die lediglich durch eine von der öffentlichen Hand verordnete Schliessung solcher Einrichtungen resultieren wĂŒrden, geringer aus als im Referenzszenario mit konstanten TodesfĂ€llen.
In der Summe ergibt sich bei ansteigenden Fallzahlen ein eindeutig gĂŒnstigeres Kosten-Nutzen-VerhĂ€ltnis von gesundheitspolitischen Massnahmen als in unserem Referenzszenario, da die Massnahmen in diesem Fall einen deutlich höheren gesundheitlichen Nutzen sowie geringere wirtschaftliche Zusatzkosten verursachen.
4. Kompensatorische Massnahmen sind Teil der PandemiebekÀmpfung
5. Die Geschwindigkeit der Impfkampagne ist Àusserst wichtig
Je schneller die Schweiz zur NormalitĂ€t zurĂŒckkehren kann, desto schneller erholen sich Wirtschaft und Gesellschaft. Die Geschwindigkeit, mit der genĂŒgend Impfstoffe beschafft und erfolgreich verteilt werden können, ist eine extrem wichtige Komponente der aktuellen Wirtschaftspolitik, wenn nicht die wichtigste.
Von Anfang November bis Anfang Januar starben in der Schweiz im Durchschnitt rund 80 Menschen pro Tag an den Folgen von SARS-CoV-2. Mit jedem Tag, mit dem die Schweiz frĂŒher eine genĂŒgend hohe Immunisierung erreicht, um die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, kann somit eine grosse Zahl von Leben gerettet werden â und möglicherweise noch viel mehr, falls sich ansteckendere Varianten ausbreiten sollten.
Auch fĂŒr die Wirtschaft zĂ€hlt hier jeder Tag. Wenn durch Impfungen die Normalisierung der Wirtschaftslage einen Tag frĂŒher erreicht wird, spart die Schweiz bis zu 110 Millionen Franken. Diese Zahl kommt wie folgt zustande: Nach SchĂ€tzungen der KOF verursachte das Virus im vergangenen April einen Wertschöpfungs- und damit Einkommensverlust von rund 9 Mrd. CHF. Rund 5 Mrd. CHF waren einer rĂŒcklĂ€ufigen Nachfrage nach schweizerischen Exportprodukten zuzuschreiben. Die restlichen 4 Mrd. CHF wurden durch eine Kombination aus inlĂ€ndischen VerhaltensĂ€nderungen und prĂ€ventiven Gesundheitsmassnahmen verursacht. In der letzten Dezemberprognose der KOF wird der inlĂ€ndisch verursachte Verlust wĂ€hrend der aktuellen zweiten Welle im aus heutiger Sicht optimistischen Basisszenario auf etwa 1.5 Mrd. CHF pro Monat geschĂ€tzt. Dieser könnte sich bei weiteren VerhaltensĂ€nderungen und/oder restriktiveren Massnahmen sogar etwas mehr als verdoppeln. Diese Zahlen legen demgemĂ€ss nahe, dass jeder zusĂ€tzliche Tag, an dem wir nicht zu einer normalen Situation zurĂŒckkehren können und in der gegenwĂ€rtigen Lage stecken bleiben, die Schweiz aus heutiger Sicht zwischen 25 und 110 Mio. CHF an Einkommen kosten könnte. Mit den Zahlen vom FrĂŒhjahr wĂ€ren die Kosten sogar bis zu 130 Mio. CHF pro Tag.
Auch aus politisch-ökonomischer Sicht gilt: Je frĂŒher eine genĂŒgend hohe ImmunitĂ€t in der Bevölkerung erreicht wird, um die Pandemie zum Erliegen zu bringen, desto besser. Je lĂ€nger es dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir uns (wieder) in einer Lage befinden, in der die enormen positiven externen Effekte von gesundheitspolitischen Massnahmen zu wenig berĂŒcksichtigt werden und daraus grosse Kosten entstehen. Wenn z.B. ein Kanton davon ausgeht, dass die Nachbarkantone gesundheitspolitische Massnahmen lockern, gibt es Anreize fĂŒr jeden Kanton, ebenfalls die Hygienemassnahmen zu lockern. Da einzelne Unternehmen, Personen und somit Kantone in der Regel nicht den Ăberblick ĂŒber alle externen Effekte haben (und einen Teil der Kosten von Anderen getragen wird), besteht die Gefahr, zu schnell zu viel zu lockern. Um Rebound-Effekte zu vermeiden, sollten gesundheitspolitische Massnahmen erst dann reduziert werden, wenn entweder die Zahl der Neuinfektionen wieder auf das Niveau zwischen der ersten und zweiten Welle gesunken ist, oder vordefinierte Schwellenwerte bezĂŒglich des Durchimpfungsgrades der Bevölkerung erreicht sind. Je frĂŒher geimpft wird, desto eher wird per Definition ein solcher Zustand erreicht.
Schliesslich hat das Impfprogramm auch Auswirkungen auf die Kosten-Nutzen-AbschĂ€tzung weitergehender epidemiologischer Massnahmen. Unseren SchĂ€tzungen kann entnommen werden, dass zwischen 50% und 60% der durch Covid-19-TodesfĂ€lle verlorenen Lebensjahre auf Menschen im Alter ĂŒber 75 Jahre entfallen (s. Anhang 2). Sobald diese Menschen flĂ€chendeckend immunisiert sind, verringert sich also auch die Nutzenseite unserer Berechnungen um gut die HĂ€lfte, womit der Nutzen von weitgehenden Lockdown-Massnahmen dementsprechend abnimmt (s. Anhang 1).
Eine rasche und flĂ€chendeckende Durchimpfung ist daher auch aus ökonomischer Sicht das weitaus effizienteste Politikinstrument. Man darf das Impfprogramm mit guten GrĂŒnden als das wirksamste Konjunkturpaket seit Jahrzehnten betrachten.
Referenzen
Abberger, K. & Abrahamsen, Y. & Anderes, M. & Eckert, F. & Funk, A.K. & Graff, M. & HĂ€lg, F. & Kronenberg, P. & Mikosch, H. & MĂŒhlebach, N. & Neuwirth, S & Rathke, A. & Sarferaz, S. & Seiler, P. & Siegenthaler, M. & Streicher, S. & StĂŒcker, A. & Sturm, J.-E. (2020). Konjunkturanalyse: Prognose 2021 / 2022. Zweite Welle lastet auf dem Arbeitsmarkt, KOF Analysen, 2020(4), 1-32, ZĂŒrich: KOF Swiss Economic Institute, ETH ZĂŒrich, https://doi.org/10.3929/ethz-b-000458776.
Aum, S. & Lee, S. Y. & Shin, Y. (2020). COVID-19 Doesnât Need Lockdowns to Destroy Jobs: The Effect of Local Outbreaks in Korea. NBER Working Paper No. 27264, https://doi.org/10.3386/w27264.
Banks, J., Karjalainen, H., Propper, C. (2020). Recessions and health: the long-term health consequences of responses to the coronavirus. IFS Briefing Note BN281. The Institute for Fiscal Studies, April 2020.
Bonardi, J.P. & BrĂŒlhart, M. & Danthine, J.P. & Jondeau, E. & Rohner, D. (2020) The Economics of Wage Compensation and Corona Loans: Why and How the State Should Bear Most of the Economic Cost of the COVID Lockdown, voxeu.org, 6 April 2020.
Bundesamt fĂŒr Raumentwicklung (2020): Empfohlener Wert der Zahlungsbereitschaft fĂŒr die Verminderung des Unfall- und Gesundheitsrisikos in der Schweiz, EidgenoÌssisches Departement fuÌr Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, Bundesamt fuÌr Raumentwicklung.
Bundesgericht (2010): Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Publisana Krankenversicherung gegen F. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 9C_334/2010 vom 23. November 2010. http://relevancy.bger.ch/php/clir/http/index.php?highlight_docid=atf%3A%2F%2F136-V-395%3Ade&lang=de&type=show_document.
Cho, H. et al. (2013). Comorbidity-Adjusted Life Expectancy: A New Tool to Inform Recommendations for Optimal Screening Strategies. Annals of Internal Medicine, 159(10): 667-676.
Cutler D.M. & Summers, L.H. (2020). The COVID-19 Pandemic and the $16 Trillion Virus. JAMA. 2020, 324(15), 1495â1496, https://doi.org/10.1001/jama.2020.19759.
DuGoff E.H, Canudas-Romo V., Buttorff C., Leff B., Anderson G.F. (2014). Multiple chronic conditions and life expectancy: a life table analysis. Med Care 52(8):688-694. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25023914/
Ecoplan (2016): Empfehlungen zur Festlegung der Zahlungsbereitschaft fĂŒr die Verminderung des Unfall- und Gesundheitsrisikos (value of statistical life). Schlussbericht. Auftraggeber: Bundesamt fĂŒr Raumentwicklung ARE und Beratungsstelle fĂŒr UnfallverhĂŒtung bfu. Bern, 19. September 2016.
Fana, M., & Tolan, S. & TorrejoÌn, S. & Urzi Brancati, C. & FernaÌndez-MaciÌas, E. (2020). The COVID confinement measures and EU labour markets, EUR 30190 EN, Publications Office of the European Union, Luxembourg.
Fuhrer L., & Ramelet, M., & Tenhofen J. (2020). Firmâs Participation in the COVID-19 Loan Program, SNB Working Paper 25/2020.
Goolsbee, A. & Syverson, C. (2021). Fear, Lockdown and Diversion: Comparing Drivers of Pandemic Economic Decline 2020. Journal of Public Economics, 193, https://doi.org/10.1016/j.jpubeco.2020.104311.
Hanushek, E.A., & WöĂmann, L. (2020). The Economic Impacts of Learning Losses.. Paris: Organisation for Economic Co-operation and Development.
International Monetary Fund (2020), World Economic Outlook: A Long and Difficult Ascent, Washington, D.C., October, https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2020/09/30/world-economic-outlook-october-2020.
KOF (2020). Was die MobilitÀt der Schweizer Bevölkerung wÀhrend der zweiten Corona-Welle verrÀt, KOF Bulletin, 4. Dezember 2020.
NCS-TF (2020a). UnterstĂŒtzung von Unternehmen in der zweiten COVID-19 Welle, Bern: Policy Brief der National COVD-19 Science Task Force. https://sciencetaskforce.ch/wp-content/uploads/2020/11/40_PB_Covid_loans_redux_2020-11-11_DE.pdf.
NCS-TF (2020b). Wissenschaftliches Update, Swiss National Covid-19 Science Task Force, 29. Dezember 2020.
OECD (2012), Mortality Risk Valuation in Environment, Health and Transport Policies, OECD Publishing. http://dx.doi.org/10.1787/9789264130807-en.
Ornelas, E. (2020). Managing economic lockdowns in an epidemic. March 28, 2020. https://voxeu.org/article/managing-economic-lockdowns-epidemic.
Rathke, A. & Sarferaz, S. & Streicher, S. & Sturm, J.-E. (2020). Szenario-Analysen zu den kurzfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, KOF Studies, vol. 148, Zurich: KOF Swiss Economic Institute, ETH Zurich, https://doi.org/10.3929/ethz-b-000416463.
Rosen, S. (1988). The Value of Changes in Life Expectancy, Journal of Risk and Uncertainty 1, 285â304.
UVEK (2020). Value of Statistical Life (VOSL): Empfohlener Wert der Zahlungsbereitschaft fĂŒr die Verminderung des Unfall- und Gesundheitsrisikos in der Schweiz, 11. November 2020.
Viscusi, K. & Aldy, J. (2003). The Value of a Statistical Life: A Critical Review of Market Estimates Throughout the Wold, Journal of Risk and Uncertainty, 27(1): 5-76.
ANHANG 1: GegenĂŒberstellung der geschĂ€tzten gesundheitlichen Nutzen und wirtschaftlichen Kosten bei einer starken VerschĂ€rfung der Massnahmen im Januar 2021

1 Szenarien fĂŒr einen Lockdown ab Mitte Januar 2021, analog zu den Massnahmen von Mitte MĂ€rz 2020, mit bis zum 17. Januar 2021 gĂŒltigen Regeln und konstanten Todesfallzahlen (80 pro Tag, R=1) als Vergleichsszenario («counterfactual»); Berechnungen bis und mit Woche 16 nach Lockdown-Start; Zahlen gerundet.
2 SchĂ€tzungen ausgehend von Referenzszenario mit konstanter Zahl von tĂ€glich 80 TodesfĂ€llen (Reproduktionszahl R=1). Szenario «tiefe Wirksamkeit» geht aus von einer Lockdown-bedingten Halbierung der Fallzahlen alle 4 Wochen (R=0.9); Szenario «hohe Wirksamkeit» geht aus von einer Lockdown-bedingten Halbierung der Fallzahlen alle 2 Wochen (R=0.78). In beiden FĂ€llen wirkt sich der Lockdown mit 3 Wochen Verzögerung auf die TodesfĂ€lle aus (mit Dank an Christian Althaus fĂŒr Hinweise zur epidemiologischen Modellierung).
3 Annahme: Durchschnittlich verbleibende Restlebenszeit von Covid-19-Toten in der Schweiz zwischen 5.4 und 6.8 Jahren (untere bzw. obere Schranke in Spalte). FĂŒr Berechnung, s. Anhang 2.
4 Geldwert eines Lebensjahres = CHF 100,000 («angemessene» medizinische Kosten pro gewonnenes Lebensjahr gemÀss Bundesgerichtsurteil von 2010).
5 Geldwert eines Lebensjahres = CHF 250,000 (gemĂ€ss Ansatz «Value of Statistical Life»; s. UVEK (2020) und Ecoplan (2016); kann interpretiert werden als breitere BerĂŒcksichtigung der gesundheitlichen Kosten im Sinne einer Zahlungsbereitschaft fĂŒr die Verminderung von Unfall- und Gesundheitsrisiken, die z.B. auch den gesellschaftlichen bzw. sozialen Wert eines Lebensjahres einschliesst (siehe u.a. OECD (2012) und Cutler & Summers (2020)).
6 FĂŒr die SchĂ€tzung der wirtschaftlichen Kosten wird auf die Prognosemodelle der KOF, ETH ZĂŒrich zurĂŒckgegriffen (Rathke u.a. (2020)). Dabei werden insbesondere die Erfahrungen aus dem FrĂŒhjahr herangezogen und auf die heutige Situation angepasst. Als Ausgangspunkt dient die Winterprognose der KOF (Abberger u.a. (2020)), welche an die BundesratsbeschlĂŒsse vom 18. Dez. angepasst wurde.
Hier werden die zusĂ€tzlichen Effekte eines weitergehenden Lockdowns modelliert. Aus diesem Grund wird die Auslandsnachfrage nicht berĂŒcksichtigt, ebenso wenig wie die AusfĂ€lle, die durch das bereits vorhandene Verhalten der Bevölkerung und die geltenden Massnahmen verursacht werden. Es wird davon ausgegangen, dass zu den anfangs Januar 2021 gĂŒltigen Massnahmen weitere einschneidende EinschrĂ€nkungen wie die Schliessung von Schulen und nicht essenzieller GeschĂ€fte im Detailhandel hinzukommen. Die wirtschaftlichen Kosten in der Tabelle beziffern den zusĂ€tzlichen kurzfristigen Wertschöpfungsverlust, der durch die Erweiterung von EindĂ€mmungsmassnahmen entsteht. Die Kostenspanne widerspiegelt unter anderem die Unsicherheit der WertschöpfungsausfĂ€lle im Detailhandel, die teilweise durch steigende Online-VerkĂ€ufe wettgemacht werden dĂŒrften. Zudem ist nicht klar, ob im Hinblick auf Schutz- und Hygiene-Massnahmen auf gewisse Schliessungen in der Unterhaltungsbranche sowie bei persönlichen Dienstleistungen verzichtet werden kann.
ANHANG 2: SchÀtzung der Verlorenen Lebensjahre durch Covid-19 TodesfÀlle
Eine Variable von entscheidender Bedeutung fĂŒr die EinschĂ€tzung der Nutzen der PandemiebekĂ€mpfung ist die durchschnittliche Restlebenszeit, die den an Covid-19 verstorbenen Menschen entgangen ist. Je Ă€lter und je stĂ€rker durch Vorerkrankungen belastet die Verstorbenen, desto geringer die Anzahl der durch Covid-19 «geraubten» Lebensjahre.
Wir schĂ€tzen die erwartete Restlebenszeit anhand von Einzeldaten zu den Covid-19-TodesfĂ€llen in der Schweiz im Zeitraum 1. Juli 2020 bis 13. Januar 2021 und deren Verteilung nach Geschlecht und Alterskategorie in 5-Jahres-Gruppen. Basierend auf dieser Verteilung ergibt sich eine mittlere Restlebensdauer von 8.2 Jahren, wenn man die erwarteten Restlebenszeiten nach Geschlecht und Alterskategorie in der Schweiz (gemĂ€ss BFS) zu Grunde legt. Zu berĂŒcksichtigen ist jedoch, dass die Covid-19-TodesfĂ€lle Personen betreffen, die hĂ€ufig von Vorerkrankungen betroffen sind, welche die Lebenserwartung einschrĂ€nken. Da die durchschnittliche Anzahl chronischer Vorerkrankungen der Covid-19-Toten auch innerhalb einzelner Alterskategorien um ca. 1.5 Vorerkrankungen (auf einer Skala mit 7 verschiedenen Vorerkrankungskategorien) höher liegt als in der Allgemeinbevölkerung (gemĂ€ss Daten der Schweizer Gesundheitsbefragung 2017), wurde die durchschnittliche erwartete Restlebenszeit pro Alterskategorie um 1.0 bis 2.0 Jahre pro zusĂ€tzlicher chronischer Vorerkrankung reduziert (siehe z.B. DeGuff et al. (2014)). Wir betrachten einen Abschlag um 2.0 Jahre pro Vorerkrankung als Obergrenze, da zum einen die Reduktion von der Anzahl chronischer Erkrankungen abhĂ€ngt und zum anderen detaillierte SchĂ€tzungen hauptsĂ€chlich aus dem amerikanischen Raum vorliegen, und andere Studien einen eher kleineren Abschlag als realistisch erscheinen lassen. GemĂ€ss Cho et al. (2013), z.B., betrĂ€gt der Abschlag ungefĂ€hr 1 Jahr. Wir nehmen daher diesen Wert als Untergrenze fĂŒr die geschĂ€tzte Bandbreite der Auswirkung einer Vorerkrankung auf die erwartete Lebensdauer.
Die niedrige Schwelle trĂ€gt auch der Tatsache Rechnung, dass der Vergleich von Vorerkrankungen zwischen den BAG-Covid-19-Einzeldaten und den Einzeldaten aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung aufgrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden und Definitionen von Vorerkrankungen den Unterschied tendenziell ĂŒberschĂ€tzen könnte. Wenn wir innerhalb der BAG-Covid-19-Einzeldaten vergleichen, wie viele Vorerkrankungen an Covid-19 verstorbene Personen im Vergleich zu nicht gestorbenen positiv getesteten Personen auswiesen, betrĂ€gt dieser Unterschied nur etwa 0.6 Vorerkrankungen. Die Vermutung liegt bei diesen Daten allerdings nahe, dass gerade bei Ă€lteren Personen vor allem die besonders Vulnerablen (z.B. in Pflegeheimen) systematisch getestet wurden und daher auch in dieser «Kontrollgruppe» der Ăberlebenden ĂŒbervertreten sind.
Untenstehende Tabelle zeigt auf, welche kontrafaktischen Restlebenserwartungen unsere Berechnungen fĂŒr Covid-19-Tote in verschiedenen Alterskategorien ergeben. Die erwartete Restlebensdauer der an Covid-19 Verstorbenen betrĂ€gt unter BerĂŒcksichtigung von Vorerkrankungen zwischen 5.4 und 6.8 Jahre.

1 GemÀss Individualdaten Daten BAG zu den Covid-19 TodesfÀllen in der Schweiz von 1. Juli 2020 bis 13. Januar 2021.
2 GemÀss BFS, Lebenserwartungen nach Alter in 2019, gewichtet nach Verteilung Geschlecht der Covid-19 Toten.
3 Lebenserwartung pro Alterskategorie reduziert um 1.0 Jahre pro zusÀtzlicher chronischer Erkrankung von Covid-19-Toten (gemÀss Einzeldaten BAG) im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (gemÀss Einzeldaten Schweizer Gesundheitsbefragung 2017).
4 Lebenserwartung pro Alterskategorie reduziert um 2.0 Jahre pro zusÀtzlicher chronischer Erkrankung von Covid-19 Toten (gemÀss Einzeldaten BAG) im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (gemÀss Einzeldaten Schweizer Gesundheitsbefragung 2017).
ANHANG 3: Graphische Darstellung des zusÀtzlichen Nutzens und der zusÀtzlichen Kosten einer VerschÀrfung der gesundheitspolitischen Massnahmen
Striktere gesundheitspolitische Massnahmen zur EindĂ€mmung der Pandemie stiften einen Nutzen (Vermeidung von Todes- und KrankheitsfĂ€llen, Reduktion von Unsicherheit), haben aber auch Kosten fĂŒr die Wirtschaft und Gesellschaft zur Folge. Diese AbwĂ€gung des Kosten-Nutzen-VerhĂ€ltnisses hĂ€ngt, wie oben beschrieben, von der Pandemielage ab. GemĂ€ss unseren einfachen Berechnungen (Anhang 1) zeigt sich in der aktuellen Situation vor allem bei kĂŒrzeren und effektiven Massnahmen ein relativ hoher Grenznutzen (d.h. zusĂ€tzlicher Nutzen aufgrund der EinfĂŒhrung einer strikteren Massnahme) im Vergleich zu fast konstanten Grenzkosten. Graphisch kann dies wie in Abb. 1 dargestellt werden. Die Grenznutzenkurve (blau) wird dabei als fallend angenommen, da der zusĂ€tzliche (oder marginale) Nutzen eines Lockdowns mit zunehmender Dauer abnimmt. WĂ€hrend die Grenzkosten (orange Kurve) in einer kurzfristigen Betrachtung etwa konstant sind, ist es plausibel anzunehmen, dass diese mit lĂ€ngerer Dauer eines Lockdown-Szenarios ansteigen, und somit ein ungĂŒnstigeres Kosten-NutzenverhĂ€ltnis resultieren wĂŒrde. Ein Anstieg der Grenzkosten lĂ€sst sich z.B. durch zusĂ€tzliche Kosten im Bildungswesen, Arbeitsmarkt oder auch im Gesundheitswesen erklĂ€ren (siehe z.B. Hanushek und Wössmann 2020, Fana et al. 2020, Banks et al. 2020).
In dieser Situation stellt sich grundsĂ€tzlich die Frage nach der optimalen Dauer eines Lockdowns, wobei aus ökonomischer Sicht ein Optimum erreicht wird, wenn der zusĂ€tzliche Nutzen den zusĂ€tzlichen Kosten einer VerlĂ€ngerung des Lockdowns entspricht (in Abb. 1 bei t*). Hierbei gilt zu beachten, dass die Grenznutzenkurve umso höher liegt, je höher die aktuelle Zahl der TodesfĂ€lle und die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus ist, womit aus ökonomischer Sicht ein lĂ€ngerer Lockdown optimal ist. Umgekehrt gilt in einer Situation mit niedrigen und fallenden Todeszahlen (eine Zielgrösse hierfĂŒr mĂŒsste definiert werden), dass der marginale Nutzen fĂŒr die Volksgesundheit relativ niedrig ist, womit ein Lockdown aus ökonomischer Sicht nicht mehr optimal wĂ€re, wenn die Grenznutzen unter der Grenzkostenkurve liegt (in der Abb. wĂ€re dann t*=t0).
Abbildung 1: Dauer des Lockdowns

Quelle: Ornelas (2020), eigene Darstellung
Â
Unsere Berechnungen in Anhang 1 zeigen ebenso, dass das Kosten-NutzenverhĂ€ltnis eines Lockdown-Szenarios besser ist, je effektiver die Massnahmen sind. In unserer Simulation ist die EffektivitĂ€t durch die Halbwertszeit bezĂŒglich der Anzahl TodesfĂ€lle berĂŒcksichtigt, wobei sich auch hier ein abnehmender Grenznutzen zeigt. Graphisch kann dies wie in Abb. 2 mit der blauen marginalen (Gesundheits-) Nutzenfunktion (hier im Bezug zur IntensitĂ€t des Lockdowns) dargestellt werden. DemgegenĂŒber stehen zunĂ€chst nur geringe Grenzkosten von Lockdown-Massnahmen, die jedoch höher werden, je strikter und einschrĂ€nkender fĂŒr die Wirtschaft und Gesellschaft diese Massnahmen sind. Eine maximale Lockdown-IntensitĂ€t (in Abb. 2 mit L bezeichnet) könnte dabei mit einem kompletten Stillstand des öffentlichen (und privaten) Lebens gleichgesetzt werden, welcher zu sehr hohen marginalen Kosten fĂŒr die Wirtschaft und Gesellschaft fĂŒhren wĂŒrde.
Ebenso wie bei der Dauer stellt sich auch bei der IntensitĂ€t eines Lockdowns die Frage der optimalen Gestaltung, wobei wiederum das Kriterium Grenznutzen gleich Grenzkosten angewandt wird (in Abb. 2 ist das Optimum durch l* illustriert). Analog zur Argumentation oben ist der Grenznutzen umso höher, je stĂ€rker die Pandemie ist, so dass eine höhere IntensitĂ€t der Lockdown-Massnahmen optimal ist. Sobald sich jedoch die Pandemie-Situation entspannt, verschiebt sich die Grenznutzenkurve nach unten und striktere Massnahmen sind aus ökonomischer Sicht nicht mehr zu rechtfertigen. Eine weitere Schlussfolgerung aus Abb. 2 ist, dass die Lockdown-Massnahmen implizit einer gewissen Ordnung folgen. Das heisst zum Beispiel, dass bei der Schliessung von öffentlichen und privatwirtschaftlichen Einrichtungen aus ökonomischer AbwĂ€gung zuerst diejenigen geschlossen werden sollten, die den grössten marginalen Nutzen fĂŒr die Volksgesundheit bei gegebenen marginalen Kosten fĂŒr Wirtschaft und Gesellschaft verursachen.
Abbildung 2: IntensitÀt des Lockdowns

Quelle: Ornelas (2020), eigene Darstellung
Hinweise:
[1] Die Originalfassung, wie sie dem EDI und damit dem Bundesrat am 7. Januar 2021 zur VerfĂŒgung gestellt wurde, finden Sie hier.
[2] Siehe z.B. Goolsbee und Syverson (2021) und Aum et al. (2020).
[3] Siehe International Monetary Fund (2020, Kapitel 2).
[4] Siehe z.B. Rathke et al. (2020).
[5] Neuere SchĂ€tzungen zur MobilitĂ€t in der Schweiz zeigen zum Beispiel, dass diese im Herbst trotz deutlich höherer Fall- und Todeszahlen weniger stark zurĂŒckging als im FrĂŒhjahr. Siehe z.B. KOF (2020).
[6] Einfache Regressionsanalysen auf der Basis des Zeitraums 04.11-21.12.2020, in dem es in der Schweiz erhebliche kantonale Unterschiede bei den Restriktionen gab, deuten darauf hin, dass Kantone wie Glarus, Schwyz, Nidwalden und Appenzell-Innerhoden die Reproduktionsrate des Virus um etwa 0.1 Punkte hĂ€tten verringern können, wenn sie Ă€hnliche Restriktionen wie die Kantone Neuenburg und Waadt vorgenommen hĂ€tten. Trotz deutlicher Spillover-Effekte zwischen den Kantonen, welche die Wirksamkeit von kantonsspezifischen Massnahmen verringern, lag die Reproduktionsrate in den Kantonen mit den strengsten Massnahmen â auch wenn man fĂŒr die Ausgangssituation kontrolliert â mit Durchschnittswerten um 0.85 deutlich niedriger als im Rest des Landes. Zum Vergleich, im April 2020 lag der Reproduktionswert schweizweit bei durchschnittlich 0.7 bei den dann gĂŒltigen Massnahmen und vermutlich hoher Befolgung durch die Bevölkerung (hohe Compliance bzw. AdhĂ€renz).
[7] Siehe Bundesgericht (2010).
[8] Siehe Bundesamt fĂŒr Raumentwicklung (2020), Ecoplan (2016) und OECD (2012).
[9] Cutler und Summers (2020) vermuten, dass die von Covid-19 verursachten Gesundheitskosten um knapp 60% ansteigen, wenn zusÀtzlich zu den Kosten der TodesfÀlle auch die Kosten von langfristigen gesundheitlichen BeeintrÀchtigungen hinzugerechnet werden.
[10] Siehe den Task Force Policy Brief «Support to business in the second wave» (NCS-TF (2020a)) sowie Fuhrer, Ramelet und Tenhofen (2020) und Bonardi et al. (2020).
In response to request from: Federal Council
Date of request: 18.12.2020
Date of response: 07.01.2021
(this version 19.01.2021)
Experts involved: Economics
Contact persons: Stefan Boes, Marius BrĂŒlhart, Aymo Brunetti, David Dorn, Rafael Lalive, Jan-Egbert Sturm, Beatrice Weder di Mauro