Zusammenfassung
In der Schweiz ist die 14-Tages Inzidenz von bestätigten SARS-CoV-2 Fällen bei 313 pro 100’000 Einwohner, was einen leichten Rückgang der Epidemie widerspiegeln könnte. Momentan beobachten wir stabile Hospitalisierungszahlen. Die Gesamtauslastung der zertifizierten Intensivbetten ist zurzeit stabil und bleibt seit 10 Tagen um 80%. Generell bedeuten stabile Zahlen bei fortschreitender Durchimpfung, dass die Krankheitslast in der noch nicht geimpften Bevölkerung zunimmt. Das Risiko einer Hospitalisierung ist zudem bei der jetzt in der Schweiz dominanten Variante B.1.1.7 erhöht. Der Anteil der hospitalisationsbedürftigen Patient*innen von allen positiv Getesteten ist bei den noch nicht geimpften Altersgruppen im Vergleich zur 2. Welle ca 50% höher. Im Vergleich zum bisherigen Verlauf der Pandemie ist das Risiko einer Erkrankung und eines schweren Krankheitsverlaufs für ungeimpfte Personen weiterhin auf einem relativ hohem Niveau.
Kinder aller Altersgruppen und Jugendliche können mit SARS-CoV-2 infiziert werden und es übertragen. Klinisch verläuft eine SARS-CoV-2 Infektion bei Kindern und Jugendlichen in den allermeisten Fällen als eine milde Infektion des oberen Respirationstraktes. Stärkere Symptome kommen in 2-5% der Getesteten vor. Eine Hospitalisation wegen COVID-19 ist am häufigsten bedingt durch eine systemische immunologisch-inflammatorische Überreaktion mit Multiorganbeteiligung. Bisher sind in der Schweiz ca 100 Fälle aufgetreten, was einer grob geschätzten Inzidenz von ca 40/100’000 Infizierten entsprechen dürfte. Geeignete Präventionsmassnahmen sollten konsequent in Schulen umgesetzt werden. Dies ist besonders relevant, solange Kinder und Jugendliche nicht in Impfkampagnen einbezogen werden können. Massnahmen, die darauf abzielen, Kinder und Jugendliche vor den potenziellen Langzeitfolgen einer SARS-COV-2-Infektion zu schützen und gleichzeitig ihre weitere Ausbildung und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und an Aktivitäten zu gewährleisten, sind äusserst wichtig, um diese Generation vor den direkten und indirekten Folgen der Pandemie zu schützen.
Kinder und Jugendliche durchlaufen in kurzer Zeit eine grosse Zahl an Entwicklungsschritten und sind entsprechend stark von dieser fast alle Lebensbereiche umfassenden Krise betroffen. Die kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen und Institutionen sind seit dem Herbst 2020 schweizweit voll ausgelastet und zum Teil überlastet. Dieser Umstand erfordert eine sorgfältige Triage, um zu gewährleisten, dass die am schwersten betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien rechtzeitig die richtige Hilfe erhalten. Kindliche psychiatrische Symptome sind oft Ausdruck einer Überforderung ihres sozialen Netzes. Die präventive interprofessionelle Arbeit aller Fachpersonen in der Kinder- und Jugendarbeit muss genutzt und weiter verstärkt werden. Vertrauen in die Kraft der kindlichen Entwicklung und die Anerkennung des grossen Beitrages, den die junge Generation seit über einem Jahr für die Gesundheit der Gesellschaft leistet, sind jetzt besonders wichtig. Wissenschaftlich nicht belegte Aussagen (z.B. Zunahme von Suiziden) verunsichern hingegen. Rund 15-20% der Kinder und Jugendlichen hatten bereits vor der Pandemie mit relevanten psychischen Problemen zu kämpfen. Besonders sie bedürfen einer Unterstützung, während der laufenden Krise und bei der Rückkehr in den «normalen Alltag».
Eine kürzlich in der Schweiz durchgeführte Studie mit fast 3 Millionen SARS-CoV2-Testergebnissen, welche als Preprint verfügbar ist, bestätigt die soziale Stratifizierung der Pandemie in unserem Land. Diese Studie zeigte, dass Personen, die auf dem Schweizer Nachbarschaftsindex der sozioökonomischen Position niedriger liegen, seltener getestet wurden, aber häufiger positiv getestet wurden, ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation eingewiesen werden mussten oder starben als Personen am oberen Ende des Index. Diese Studie bestätigt, dass wir nicht alle die gleichen Möglichkeiten haben, uns zu schützen. Umso wichtiger sind unsere gemeinsamen Bemühungen, uns gegenseitig zu schützen.
1. Epidemiologische Situation
In der Schweiz zirkulieren verschiedene Stämme von SARS-CoV-2 unter welchen B.1.1.7 dominiert. Die allgemeinen epidemiologischen Parameter – Fallzahlen, Hospitalisationen, Intensivstation-Belegung, Todesfälle – geben eine Gesamtsicht, ohne zwischen einzelnen Stämmen zu unterscheiden. Insgesamt deuten all diese Indikatoren auf eine stabile und inzwischen möglicherweise leicht rückläufige-Epidemie hin. Eine genaue Quantifizierung ist momentan schwierig durch das veränderte Testverhalten und die fortschreitenden Impfungen. Daten aus der Abwasserüberwachung sind ein vom Testverhalten unabhängiger wichtiger Indikator. Abwasseranalysen von sechs Standorten bestätigen die basierend auf Fallzahlen beobachteten epidemiologischen Trends.
1.1 Dynamik
Basierend auf den aktuellen Daten schätzen wir einen stabilen und in der zweiten Aprilhälfte möglicherweise leicht rückläufigen Trend der-SARS-CoV-2 Epidemie. Der 7-Tagesschnitt der schweizweiten Reproduktionszahl ist bei 0.93 (0.81 – 1.06); dies reflektiert das Infektionsgeschehen vom 17.04.-23.04.20211.
Tagesbasierte Schätzungen der effektiven Reproduktionszahl Re für die Schweiz betragen:
- 0,93 (95 % Unsicherheitsintervall, UI: 0,79-1,07) aufgrund der bestätigten Fälle, per 23.04.2021.
- 0,93 (95 % UI: 0,78-1,08) aufgrund der Hospitalisationen, per 18.04.2021. Zum Vergleich aufgrund der bestätigten Fälle wird Re für den selben Tag auf 0,94 (95 % UI: 0,83-1,06) geschätzt.
- 1,15 (95 % UI: 0,73-1,66) aufgrund der Todesfälle, per 11.04.2021. Zum Vergleich aufgrund der Hospitalisationen wird Re für den selben Tag auf 0,96 (95 % UI: 0,83-1,1) geschätzt. Aufgrund der bestätigten Fälle wird Re für den selben Tag auf 1,01 (95 % UI: 0,91-1,11) geschätzt.
Wegen Meldeverzögerungen und Fluktuationen in den Daten könnten die Schätzwerte nachkorrigiert werden. Wir weisen darauf hin dass die Re Werte das Infektionsgeschehen nur verzögert widerspiegeln, weil eine gewisse Zeit vergeht zwischen der Infektion und dem Testresultat oder dem etwaigen Tod. Für Re Werte, die auf Fallzahlen basieren, beträgt diese Verzögerung mindestens 10 Tage, für Todesfälle bis 23 Tage.
Eine Veränderung der Fallzahlen, Hospitalisierungen und Todesfällen stratifiziert nach Alter kann auf unserem Dashboard verfolgt werden2. Der Effekt der Impfkampagne ist in der Altersgruppe über 75 Jahre sichtbar, wo wir einen Rückgang der Fallzahlen, Hospitalisierungen und Todesfälle beobachten. Während die Altersgruppe 75+ in der 2. Welle rund 50% der Hospitalisierungen ausgemacht hat, sind es inzwischen noch rund 20%. Dagegen sind die Hospitalisierungen bei den unter 65-jährigen von unter 30% in der 2. Welle auf nun über 60% gestiegen.
Durch fortschreitende Impfungen erwarten wir, dass in den nächsten Wochen die Reproduktionszahl basierend auf Hospitalisierungen und Todesfällen die Transmissionsdynamik unterschätzt. Generell bedeuten stabile Zahlen bei fortschreitender Durchimpfung dass die Krankheitslast in der noch nicht geimpften Bevölkerung zunimmt und in dem immer grösseren Anteil der geimpften Bevölkerung abnimmt.
Parallel bestimmen wir die Verdopplungs- bzw. Halbwertszeiten der bestätigten Fälle, Hospitalisationen und Todesfälle über die letzten 14 Tage3. Die bestätigten Fälle änderten sich um -16% (UI: -6% bis -25%) pro Woche, die Hospitalisationen um -10% (UI: 2% bis -21%) und die Todesfälle um 19% (UI: 69% bis -16%). Diese Werte spiegeln das Infektionsgeschehen vor mehreren Wochen wider.
1.2 Absolute Zahlen
Die kumulierte Anzahl der bestätigten Fälle über die letzten 14 Tage liegt bei 313 pro 100’000 Einwohner. Die Positivität liegt bei 5,6% (Stand 30.04.2021, das ist der letzte Tag für welchen nur noch wenige Nachmeldungen erwartet werden).
Die Anzahl der COVID-19-Patienten auf Intensivstationen lag über die letzten 14 Tage im Bereich von 183-1974 Personen (die Änderung war -1% (UI: 7% bis -8%) pro Woche).
Die Zahl der täglichen laborbestätigten Todesfälle über die letzten 14 Tage war zwischen 4 und 115.
1.3 Neue Varianten
In der Schweiz sind die ursprünglich in Grossbritannien und Südafrika beschriebenen Varianten B.1.1.7 und B.1.351 erstmals in Kalenderwoche 51 des Jahres 2020 identifiziert worden. Die ursprünglich in Brasilien beschriebene P.1 Variante wurde erstmals in Kalenderwoche 6 des Jahres 2021 in der Schweiz identifiziert. B.1.1.7 ist inzwischen die dominante Virusvariante und die Epidemie in der Schweiz ist eine B.1.1.7 Epidemie6,7. B.1.351 und P.1 treten momentan mit weniger als 1% auf. Die ursprünglich in Indien beschriebene B.1.617 Variante wurde erstmals in Kalenderwoche 16 des Jahres 2021 in der Schweiz identifiziert.
B.1.1.7 hat eine erhöhte Übertragungsrate. Dies hat dazu geführt dass B.1.1.7 nun dominiert. Untersuchungen in Grossbritannien wiesen Ende 2020 darauf hin, dass B.1.1.7 eine deutlich höhere Übertragungsrate hat als die bislang bekannten Stämme von SARS-CoV-28. Die genetische Charakterisierung von Zufallsstichproben aus positiv getesteten Menschen von Testlabors der Schweiz, sowie die systematische genetische Charakterisierung von Proben im Referenzlabor in Genf, erlaubt diese erhöhte Übertragungsrate auch basierend auf Schweizer Daten zu bestätigen9,10 (43-52% basierend auf 11 und 42-60% basierend auf 12).
Das Risiko eines schweren Verlaufs aufgrund von Infektion mit B.1.1.7 wird in mehreren Studien beobachtet. Eine Studie13 aus Grossbritannien deutet darauf hin, dass die Sterblichkeit bei einer Infektion mit B.1.1.7 um 50% erhöht ist über alle Altersklassen hinweg. Diese erhöhte Gefährlichkeit von B.1.1.7 wird gestützt durch weitere Studien aus Grossbritannien14,15. Ergebnisse einer Studie16 aus Dänemark deuten darauf hin, dass das Risiko einer Hospitalisierung bei Infektion mit B.1.1.7 erhöht ist. Eine neue Studie sieht keine erhöhte Sterblichkeit, untersucht jedoch nur hospitalisierte Personen17. In einer weiteren Studie bei der Daten einer «COVID symptom study App» ausgewertet wurden, wurde mit Ausbreitung von B.1.1.7 keine Verschiebung zu schwereren Verläufen beobachtet18.
In den Schweizer Daten sehen wir einen Trend hin zu einem erhöhten Risiko einer Hospitalisierung wenn ein Patient mit B.1.1.7 infiziert ist. Dementsprechend sind mit Ausbreitung von B.1.1.7 die Wahrscheinlichkeiten einer Hospitalisierung bei positivem Testergebnis gestiegen. Eine 55-64 jährige positiv getestete Person hatte beispielsweise zum 31.12.2020 (als B.1.1.7 noch wenig verbreitet war) ein Risiko von 4.3% (28-Tages Mittel) eines Spitaleintritts. Zum 31.3.2021 (als B.1.1.7 dominant war), war das Risiko bei 6.75%19. Die anderen Altersgruppen über 35 entwickelten sich ähnlich (in den jüngeren Altersklassen sind die absoluten Zahlen zu klein für belastbare Aussagen). Die Todesfall-Zahlen aufgrund von B.1.1.7 für die Schweiz sind zu klein als dass wir für die Schweiz eine Aussage treffen könnten.
Es wird erwartet, dass die in der Schweiz momentan verwendeten mRNA-Impfstoffe auch gegen die neuen Varianten wirken20.
Basierend auf den Daten aus der genetischen Charakterisierung können wir die Veränderung der absoluten Fallzahlen, welche von B.1.1.7 verursacht werden, abschätzen. Seit Anfang Januar ist diese absolute Zahl kontinuierlich gestiegen, während die anderen Varianten abgenommen haben21. Die Gesamtzahlen haben bis Mitte Februar abgenommen. Inzwischen ist B.1.1.7 dominant und die Gesamtzahlen sind wieder gestiegen und haben Mitte April einen Peak mit über 2500 Fällen pro Tag erreicht. Momentan sind wir bei weniger als 2000 Fällen pro Tag. Unsere Modellierungen deuten darauf hin, dass die momentane Anzahl von Personen mit Immunität aufgrund von Impfung oder durchgemachter Infektion über die nächsten Wochen noch zu tief sein wird um einen signifikanten Einfluss auf die Virusübertragung zu haben.
2. Aktuelle Situation in den Intensivpflegestationen
Stand 29. April ist die Zahl der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen seit 10 Tagen stabil. Die Trendanalyse vom 20.04., die eine Zunahme erwartet hatte, hat sich damit nicht bestätigt. Die aktuelle Kurz-Trendanalyse zeigt stabile Verhältnisse über die nächsten Tage. Bei 875 von der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin zertifizierten Betten befanden sich 697 Patienten auf der Intensivstation, darunter 253 COVID-19-Patienten (dies entspricht 28.9% aller zertifizierten IPS-Betten). Folglich blieb auch die Zahl der Nicht-COVID-19-Patienten auf der Intensivstation im Vergleich zur Vorwoche stabil. Die Gesamtauslastung der zertifizierten Intensivbetten ist nicht weiter angestiegen und bleibt seit 10 Tagen um 80%.
Im Laufe der letzten Tage wurden regionale Unterschiede deutlich, die zu Verlegungen von Patienten im Rahmen der Nationalen Koordination der Intensivbetten (KSD, SGI, REGA) geführt haben. Die Spitäler arbeiten zur zeit mit Hochdruck, um sämtliche geplanten Interventionen, notfallmässig, dringlich und nicht-dringlich abzuarbeiten und keinen Rückstau zuzulassen22 Dies hat zu lokalen Überlastungen geführt, aber auch zu Verletzungen der Solidarität. Korrekturen wurden inzwischen durch Interventionen der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin und den Beauftragten des Bundesrates für den koordinierten Sanitätsdienst in die Wege geleitet.
Im Vergleich zum Beginn der 2. Pandemiewelle in der Schweiz im Oktober / November 2020 manifestieren sich in der 3. Welle seit anfangs März 2021 folgende epidemiologischen Unterschiede, die am ehesten durch die 50% höhere Pathogenität der Variante B.1.1.7 und durch die Schutzwirkung der laufenden Impfkampagne erklärt werden können.
- Das Durchschnittsalter der hospitalisierten Patient*innen und auf Intensivstationen ist gesunken. In der Gruppe der über 75 Jährigen sind sowohl die Infektionsrate als auch die Hospitalisationsbedürftigkeit stark rückläufig.
- Bei den noch nicht geimpften Altersgruppen ist der Anteil der hospitalisationsbedürftigen Patient*innen von allen positiv Getesteten seit dem 1.3.21 ca 50% höher im Vergleich zur 2. Welle. In der Altersgruppe 50-59 Jahre mussten in der 2. Welle 4% der positiv Getesteten hospitalisiert werden, seit dem 1.3.2021 liegt dieser Anteil bei 6%.
- Von den hospitalisationsbedürftigen Patient*innen muss aktuell ein höherer Anteil intensivmedizinisch betreut werden. Im Oktober / November 2020 lag dieser Anteil bei etwa 15% aller Hospitalisierten, aktuell eher bei über 20%.
Diese Veränderungen im Schweregrad der COVID-Erkrankungen können folgende Konsequenzen nach sich ziehen:
- Die Risikoklassifizierung für eine schwere COVID-19 Infektion verschiebt sich zu jüngeren Altersgruppen. Aus klinischer Perspektive sollten auch 50-60 Jährige als Risikopopulation klassifiziert werden, da bei einer SARS-CoV-2 Infektion eine Wahrscheinlichkeit von 6% für Hospitalisation und von 2% für die Behandlungsnotwendigkeit auf einer Intensivstation besteht. Auch bei über 50-jährigen sollte daher eine Impfquote von über 75% angestrebt werden.
- Die Belegung der Intensivstationen mit schwer erkrankten COVID-Patient*innen kann bereits bei niedrigeren Fallzahlen und Hospitalisationen limitierend werden.
3. Kinder und Jugendliche
3.1 Epidemiologie, Übertragung und Public Health
Kinder aller Altersgruppen und Jugendliche können mit SARS-CoV-2 infiziert werden und es übertragen (siehe TF-Policy Brief, veröffentlicht am 27. April 202123). Sie haben in der Regel weniger und mildere Symptome von SARS-CoV-2 als Erwachsene, was zu weniger Tests und Unterdiagnosen führt. Der genaue Zusammenhang zwischen dem Alter und dem Erwerb und der Übertragung von SARS-CoV-2 bleibt unklar. Mehrere Studien, die speziell die Infektionsrichtung zwischen Kindern und Erwachsenen in Haushalts- und Schulclustern untersuchen, sind derzeit im Gange, auch in der Schweiz. Es gibt Hinweise darauf, dass mehr Tests bei Kindern aller Altersgruppen und bei Jugendlichen sowie gut konzipierte Längsschnittstudien in Schulen und Haushalten dringend erforderlich sind. Geeignete Präventionsmassnahmen sollten konsequent in Schulen umgesetzt werden.
Dies ist besonders relevant, da Kinder und Jugendliche, zumindest in absehbarer Zukunft, nicht in Impfkampagnen einbezogen werden. Massnahmen, die darauf abzielen, Kinder und Jugendliche vor den potenziellen Langzeitfolgen einer SARS-COV-2-Infektion zu schützen und gleichzeitig ihre weitere Ausbildung und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und an Aktivitäten zu gewährleisten, sind äusserst wichtig, um diese Generation vor den direkten und indirekten Folgen der Pandemie zu schützen. Diese Massnahmen werden in einem im Januar 2021 veröffentlichten TF-Policy Brief24 beschrieben und beinhalten physische Distanzierung, Masken für Kinder älter als 6 Jahre, angemessene Belüftung, Tests von symptomatischen Kindern und Jugendlichen, schnelle und gezielte Quarantäne von Klassen, die Hinweise auf eine laufende Übertragung zeigen, um eine grössere Viruszirkulation zu verhindern. Weitere Massnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sind die vorrangige Impfung von Lehrern und Schulpersonal, das Tragen von Masken im Öffentlichen Verkehr (auch auf dem Weg zur und von der Schule), die Überwachung der Luftqualität in Schulen (Klassenräume, Kantinen, Büros und alle Innenräume) durch häufiges Öffnen von Fenstern und den Einsatz von CO2-Monitoren, die Ermöglichung von Essen und anderen Aktivitäten im Freien so weit wie möglich und die Anweisung, dass Kinder mit Symptomen, auch mit leichten, zu Hause bleiben. Darüber hinaus muss die Bevölkerung, insbesondere Eltern, Lehrer und anderes Schulpersonal (Schulleitungen usw.), wissen, dass Kinder infiziert werden können und dass sie das Virus auf andere Kinder und Erwachsene übertragen können. Dieses Bewusstsein ist entscheidend, damit die Eltern regelmässige Tests der Kinder und andere Schutzmassnahmen akzeptieren und unterstützen, einschliesslich der Impfung von Kindern und Jugendlichen, sobald sichere und wirksame Impfstoffe für diese Altersgruppen verfügbar sind.
3.2 COVID-assoziierte somatische Erkrankungen
Klinisch verläuft eine SARS-CoV-2 Infektion bei Kindern und Jugendlichen in den allermeisten Fällen als eine milde und nur wenige Tage dauernde Infektion des oberen Respirationstraktes mit Fieber und Husten, sehr oft ist sie auch gänzlich asymptomatisch (ca 30% aller getesteten Fälle). Nur selten (2-5% der Getesteten) kommt es zu stärkeren Symptomen im Sinne einer manifesten Lungenentzündung, die eine ärztliche Abklärung und Behandlung bedürfen. Ausserordentlich selten sind schwerwiegende Krankheitssymptome, die eine stationäre Behandlung nach sich ziehen. Eine Hospitalisation wegen COVID-19 ist am häufigsten bedingt durch eine systemische immunologisch-inflammatorische Überreaktion mit Multiorganbeteiligung. Das als PIMS/MIS-C bezeichnete Syndrom kommt bei ethnischen Minderheiten (insb. Sub-Sahara Afrika und Lateinamerika) häufiger vor als bei Kaukasiern. Bisher sind in der Schweiz ca 100 Fälle aufgetreten, was einer grob geschätzten Inzidenz von ca 40/100’000 Infizierte entsprechen dürfte. Die Hälfte dieser Kinder und Jugendlichen war so schwer erkrankt, dass eine intensivmedizinische Behandlung notwendig wurde (ca 20/100’000 Infizierte). Im bisherigen Verlauf der Pandemie sind in der Schweiz bei geschätzten 250’000 SARS-CoV-2 Infektionen unter Kindern und Jugendlichen zwei Todesfälle bei Personen <18 Jahren gemeldet worden.
3.3 Pandemie-assoziierte psychische und psychosomatische Konsequenzen25
Kinder und Jugendliche durchlaufen in kurzer Zeit eine grosse Zahl an Entwicklungsschritten und sind entsprechend stark von dieser fast alle Lebensbereiche umfassenden Krise betroffen. Eine deutsche Längsschnittstudie mit Datenerhebungen vor drei Jahren (also präpandemisch), im Mai/Juni 2020 (nach der 1. Welle) sowie im Dezember 2020/Januar 2021 (in der 2. Welle) zeigt, dass bei Kindern Verhaltensauffälligkeiten und Hyperaktivität während der Pandemie zugenommen haben, während Jugendliche häufiger an Ängsten und psychosomatischen Beschwerden leiden26. Besonders Gefühle von Kraftlosigkeit und Bauchschmerzen haben sich bei Jugendlichen im Verlaufe der Pandemie weiter verstärkt. Die Jugendlichen leiden zudem unter den stark eingeschränkten sozialen Kontakten und beeinträchtigten Freundschaften. Ein Viertel der Jugendlichen und ein Drittel deren Eltern geben an, dass es häufiger zu Streitigkeiten in der Familie kommt. In einer im April und Mai 2020 in Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführten Querschnittstudie zeigen die Kinder vor allem trotziges und aggressives Verhalten, während die Jugendlichen an Ängsten und Depressionen leiden27. Tiefes Bildungsniveau, enge Wohnverhältnisse und Migrationshintergrund, sowie psychische Belastung der Eltern sind mit stark ausgeprägter Psychopathologie der Kinder verbunden. Ein von der Familie als gut erlebtes Familienklima vermag diese Risikofaktoren weitgehend zu kompensieren.
Eine von Juli bis Oktober 2020 schweizweit in drei Sprachregionen durchgeführte repräsentative Studie mit 12-17-jährigen Jugendlichen ergab, dass über ein Drittel der Befragten an Symptomen mindestens einer psychischen Störung litt28. Am häufigsten traten Symptome einer ADHS, vor allem Konzentrationsstörungen, auf, gefolgt von oppositionellem Verhalten, Ängsten und Depressionen. Überraschend war, dass mehr weibliche Jugendliche gereiztes und oppositionelles Verhalten zeigten als männliche. 30% der Jugendlichen fielen zudem durch einen Anstieg problematischer Mediennutzung auf.
Die kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen und Institutionen sind seit dem Herbst 2020 schweizweit voll ausgelastet und zum Teil überlastet. Dieser Umstand erfordert eine sorgfältige Triagierung, um zu gewährleisten, dass die am schwersten betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien rechtzeitig die richtige Hilfe erhalten. Angebote wurden zum Teil bereits entsprechend angepasst und erweitert (z.B. Schaffung von Gruppenangeboten, zusätzliche Ressourcen für Kriseninterventionen).
Kindliche psychiatrische Symptome sind oft Ausdruck einer Überforderung ihres sozialen Netzes. Viele Eltern, Lehrpersonen usw. sind in der aktuellen Krise selbst erschöpft und teilweise überfordert. Die den Kindern und Jugendlichen Sicherheit bietenden Räume versagen besonders in Systemen, die bereits vor Ausbruch der Pandemie belastet waren. Die präventive interprofessionelle Arbeit aller Fachpersonen in der Kinder- und Jugendarbeit muss genutzt und weiter verstärkt werden. Vertrauen in die Kraft der kindlichen Entwicklung und die Anerkennung des grossen Beitrages, den die junge Generation seit über einem Jahr für die Gesundheit der Gesellschaft leistet, sind jetzt besonders wichtig. Wissenschaftlich nicht belegte Aussagen (z.B. Zunahme von Suiziden) verunsichern hingegen. Rund 15-20% der Kinder und Jugendlichen hatten bereits vor der Pandemie mit relevanten psychischen Problemen zu kämpfen. Besonders sie bedürfen einer Unterstützung, während der laufenden Krise und bei der Rückkehr in den «normalen Alltag».
Insgesamt ist die wissenschaftliche Datenlage zu Häufigkeit und Verteilung von psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz im Allgemeinen und zum Einfluss der aktuellen Pandemie im Speziellen weiterhin dürftig und erfordert national koordinierte interdisziplinäre Massnahmen und Studien.
3.4 Schutzmassnahmen
Die Seropositivität in der Schweizer Bevölkerung wird auf ca. 20 % geschätzt29, wobei die Seropositivität bei Kindern (<16 Jahre) aufgrund der Ergebnisse der Genfer Seroprävalenzstudie30 als gleich hoch eingeschätzt wird. Es ist noch unklar, welche Immunität erforderlich ist, um die Populationsimmunität zu erreichen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Populationsimmunität bei 80 % Immunität in der Bevölkerung erreicht ist (was mit den Beobachtungen in Manaus (Brasilien) und den Schätzungen der Basisreproduktionszahl zusammen mit dem Übertragungsvorteil von B.1.1.7 vereinbar scheint), dann würden bis zu weitere 60 % der Kinder mit dem Virus in Kontakt kommen, wenn sie nicht geimpft sind.
Bisher wurden ca. 350 der unter 16-jährigen Personen hospitalisiert. Wenn 20 % dieser Bevölkerungsgruppe infiziert waren und somit seropositiv sind, und wir davon ausgehen, dass sich insgesamt 80 % infizieren werden, wenn wir die Kinder nicht impfen oder sie schützen, bis sie Zugang zu einem Impfstoff haben, dann könnten sich weitere 60 % der Kinder infizieren. Somit würde die zukünftige Krankheitslast unter diesen groben Annahmen das Dreifache der aktuellen Zahlen betragen, d.h. etwa 1000 Krankenhausaufenthalte.
Wir weisen darauf hin, dass alle oben genannten Zahlen und Annahmen mit grosser Unsicherheit behaftet sind. Diese einfache Berechnung ist eher als grober Anhaltspunkt denn als präzise Vorhersage gedacht.
4. Soziale Schichtung von COVID19
Das Risiko, sich mit COVID19 zu infizieren, variiert auch mit der beruflichen Tätigkeit, und Cluster von SARS-CoV-2-Infektionen bestehen länger in sozioökonomisch benachteiligten Vierteln31. Dies könnte auf die unterschiedliche Durchführbarkeit des Home-Office, die unterschiedliche Wahrscheinlichkeit von ungeschützten Kontakten am Arbeitsplatz und die beengteren Verhältnisse zu Hause bei Personen mit einkommensschwachen Jobs zurückzuführen sein. Dies steht im Einklang mit Daten aus den USA, die eine geringere soziale Distanzierung bei Personen unterhalb der Armutsgrenze zeigen32. Auch in der Schweiz haben u. a. Personen mit einem niedrigeren Bildungsniveau und geringerem Einkommen seltener die Möglichkeit, sich durch Arbeit von zu Hause aus zu schützen33. Die konsequente Umsetzung von Schutzmassnahmen am Arbeitsplatz ist von besonderer Bedeutung.
Eine kürzlich in der Schweiz durchgeführte Studie, welche als Preprint verfügbar ist, mit fast 3 Millionen in Frage kommenden SARS-CoV2-Testergebnissen bestätigt diese Situation. Diese Studie zeigte, dass Personen, die auf dem Schweizer Nachbarschaftsindex der sozioökonomischen Position (Swiss-SEP) niedriger liegen, seltener getestet wurden, aber häufiger positiv getestet wurden, ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation eingewiesen werden mussten oder starben als Personen am oberen Ende des Index34. Diejenigen in der höchsten Swiss-SEP-Kategorie hatten ein um 34 % geringeres Sterberisiko als diejenigen in der niedrigsten Kategorie, obwohl der Unterschied ab einem Alter von 80 Jahren verschwand. Diese Studie bestätigt, dass wir nicht alle die gleichen Möglichkeiten haben, uns zu schützen. Umso wichtiger sind unsere gemeinsamen Bemühungen, uns gegenseitig zu schützen.
5. Neue Policy Briefs der ncs-tf
Aufgeschobene medizinische Eingriffe während der dritten Welle35
Eine versteckte Gefahr der COVID-19-Pandemie ist der Aufschub von medizinischen Eingriffen, wenn Intensivstationen (ICU) in Erwartung einer Epidemiewelle geräumt werden müssen. Damit ist das Risiko negativer Gesundheitsfolgen verbunden. Unser Modell schätzt, dass sich bei den aktuellen Trends der Impfkampagne bis September 2021 ein Rückstau von etwa 6000 verzögerten Eingriffen bilden könnte.
Die Rolle von Kindern und Jugendlichen bei der COVID-19-Epidemie36
Kinder und Jugendliche können sich mit SARS-CoV-2 infizieren, krank werden und das Virus übertragen. Ihre Symptome sind im Allgemeinen milder als bei Erwachsenen. Die derzeit verfügbare wissenschaftliche Literatur erlaubt keine präzise Bestimmung des Zusammenhangs zwischen dem Alter einer Person und der Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus zu infizieren oder es zu übertragen. Es ist wichtig, zwischen verschiedenen Altersgruppen zu unterscheiden: Kleinkinder (0-5 Jahre), Schulkinder (6-12 Jahre) und Jugendliche (13-17 Jahre).
Hinweise:
[1] https://sciencetaskforce.ch/reproduktionszahl/ und https://ibz-shiny.ethz.ch/covid-19-re-international/: Die Schätzungen von Re über die letzten Tage können leichten Schwankungen unterliegen. Diese Schwankungen treten insbesondere in kleinen Regionen, bei sich ändernder Dynamik und bei niedrigen Fallzahlen auf.
[2] https://ibz-shiny.ethz.ch/covidDashboard/, Dashboard Time Series
[3] https://ibz-shiny.ethz.ch/covidDashboard/trends: Aufgrund von Melderverzögerungen werden die letzten 3 respektive 5 Tage für bestätigte Fälle und Hospitalisationen/Todesfälle nicht berücksichtigt.
[5] https://www.covid19.admin.ch
[6] https://cevo-public.github.io/Quantification-of-the-spread-of-a-SARS-CoV-2-variant/
[7] https://ispmbern.github.io/covid-19/variants/
[8] https://sciencetaskforce.ch/wissenschaftliches-update-09-februar-2021/
[9] https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.03.05.21252520v2
[10] https://ispmbern.github.io/covid-19/variants/
[11] https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.03.05.21252520v2
[12] https://ispmbern.github.io/covid-19/variants/
[13] https://www.nature.com/articles/s41586-021-03426-1
[14] https://www.bmj.com/content/bmj/372/bmj.n579.full.pdf
[15] https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.03.04.21252528v2.full.pdf
[16] https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3792894
[17] https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(21)00170-5/fulltext
[18] https://www.thelancet.com/journals/lanpub/article/PIIS2468-2667(21)00055-4/fulltext
[19] https://ibz-shiny.ethz.ch/covidDashboard/, Dashboard Time Series
[20] https://sciencetaskforce.ch/wissenschaftliches-update-07-april-2021/
[21] https://cevo-public.github.io/Quantification-of-the-spread-of-a-SARS-CoV-2-variant/
[24] https://sciencetaskforce.ch/policy-brief/assessment-of-measures-in-schools/
[25] Dieser Beitrag wurde dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Prof. Dr. med. Alain Di Gallo, Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
[26] Ravens-Sieberer U. et al. (2021): Quality of life and mental health in children and adolescents during the first year of the Covid-19 pandemic in Germany: Results of a two-wave nationally representative study, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3798710
[27] Schmidt S. J. et al. (2021): Age related effects of the COVID-19 pandemic on mental health of children and adolescents, https://doi.org/10.1080/20008198.2021.1901407
[28] Mohler-Kuo M. et al. (2021): Stress an mental health among children/adolescents, their parents, and young adults during the first COVID-19 lockdown in Switzerland, https://doi.org/10.3390/ijerph18094668
[29] https://corona-immunitas.ch
[30] https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(21)00054-2/fulltext
[31] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33351774/
[32] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33351774/
[33] COVID-19 Sozialmonitor https://covid19.ctu.unibe.ch/