unnamed

Statement Prof. Samia Hurst, vice-chair und Expertin für Biomedizinische Ethik, Point de Presse 04. Januar 2022

Meine Damen und Herren, Mesdames et Messieurs

Vor zwei Jahren berichtete die WHO von mehreren Fällen schwerer Lungenentzündungen in der chinesischen Provinz Hubei. Bereits eine Woche später wurde die Gensequenz des Virus online veröffentlicht. Elf Monate später wurde die erste Person geimpft. Mittlerweile haben fast 60 % der Weltbevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten, in der Schweiz liegt der Wert bei fast 70 %. Wir erleben gerade den zweiten Winter dieser Pandemie. Wir sind nun besser gewappnet, da die meisten von uns immun sind. Viele von uns sind jedoch noch nicht gegen COVID-19 geimpft oder davon genesen. Kinder unter zwölf Jahren können erst seit Kurzem geimpft werden. Aufgrund akuter Erkrankungen und Fällen von Long COVID müssen wir weiterhin mit einer starken Belastung unserer Spitäler und auch unserer Gesellschaft rechnen.

Die Omikron-Variante ist inzwischen auch in der Schweiz dominant und bestimmt die Dynamik der aktuellen Welle. Die Reproduktionszahl R liegt nun in allen Grossregionen über 1. Wenn wir die Anzahl unserer Kontakte nicht verringern, wird die Omikron-Variante zu einem weiteren Anstieg der Fallzahlen führen. Wenn viele Menschen gleichzeitig daran erkranken, könnte es in zahlreichen Bereichen, so auch im Gesundheitswesen, zu kritischen Personalengpässen und einer Überlastung der Testkapazitäten kommen. 

Was bedeutet die aktuelle Situation für Personen, die immun sind, für Personen, die nicht immun sind, für Spitäler und für die Gesellschaft?

Ist man immun, kann man sich zwar sicherer schätzen, als wenn man es nicht ist, dennoch dürfte davon auszugehen sein, dass Omikron die Menschen vorsichtiger werden lässt. Die Schutzwirkung gegen schwere Krankheitsverläufe und Hospitalisierungen ist bei zweifach Geimpften mit 70 % und bei dreifach Geimpften mit 78–93 % weiterhin hoch. Der Schutz vor einer symptomatischen Infektion hingegen sinkt nach zwei Impfdosen deutlich auf etwa 35 %, steigt aber nach drei Impfdosen wieder auf 77 % an.   

Ist man weder geimpft noch genesen, besteht ein erhöhtes Risiko, dass es zu einem schweren Krankheitsverlauf kommt. Verglichen mit Delta scheint es jedoch bei Omikron so zu sein, dass das Risiko gesenkt wird und wieder ungefähr auf dem Niveau der zweiten Welle liegt, vielleicht sogar noch ein bisschen niedriger. Es ist nicht einfach, das Risiko für Personen mit fehlender Immunität richtig einzuschätzen, da Omikron bei immunen Personen mehr Infektionen auslöst als frühere Varianten und diese Personen durch ihre Immunität zumindest teilweise vor einem schweren Krankheitsverlauf geschützt sind. Dies könnte uns vielleicht zu optimistisch stimmen.

Daher ist es wichtig, dass bei Studien der Impfstatus berücksichtigt wird. Einer Studie aus Südafrika zufolge wird die Hospitalisierungsrate bei Omikron um 29 % niedriger eingeschätzt als während der ersten Welle im Jahr 2020, bei Kindern jedoch um 20 % höher. Zwei im Vereinigten Königreich durchgeführte Studien prognostizieren um 20 % bzw. 67 % niedrigere Hospitalisierungsraten als bei der Delta-Variante. Anhand von Daten aus den USA wurde festgestellt, dass bei Omikron das Risiko, ins Spital eingeliefert zu werden, bei Erwachsenen und Kindern nur etwa halb so hoch war wie bei der Delta-Variante.

Doch selbst bei niedrigeren Hospitalisierungsraten könnte das Gesundheitssystem durch Omikron stark belastet werden. Nämlich dann, wenn sich die Virulenz zwar verbessert hat, die Prävalenz jedoch höher ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt macht sich die Omikron-Welle bei den Spitalzahlen noch nicht bemerkbar. Über 90 % der COVID-Patientinnen und -Patienten, die sich derzeit auf unseren Intensivstationen befinden, sind mit Delta infiziert. Wie das bei der Omikron-Variante aussehen wird, können wir wohl erst in den kommenden zwei Wochen abschätzen. In der Zwischenzeit sollten wir beobachten, was in anderen Ländern passiert.

Aus Irland und England wird berichtet, dass während der Omikron-Welle die intensivmedizinische Versorgung möglicherweise nicht der primäre limitierende Faktor für die Spitäler ist. In den Londoner Spitälern wird beispielsweise ein rascher Anstieg von Einweisungen festgestellt, allerdings gibt es noch keine Veränderungen auf den Intensivstationen. Dies könnte die üblicherweise zu erwartende zeitliche Verzögerung sein, doch deuten die ersten Daten zu Omikron und auch der Intensivstationen darauf hin, dass das Risiko bei Geimpften oder Genesenen, stationär behandelt werden zu müssen, möglicherweise erheblich gesenkt werden kann. Welche Auswirkungen Omikron also tatsächlich auf die Lage auf den Intensivstationen haben wird, bleibt demzufolge weiterhin unklar. Wir müssen auch die Zahlen der Spitaleinweisungen auf den Normalstationen beobachten. Zur Versorgung von COVID-Patientinnen und -Patienten sind entsprechend geschultes Personal und eine spezielle Geräteausstattung erforderlich, die nicht zur gleichen Zeit für andere Personen zur Verfügung stehen. Durch die hohe Anzahl an Spitalaufenthalten sinkt die Versorgungsqualität für alle. Obwohl auf Normalstationen mehr Flexibilität als auf Intensivstationen besteht, ist auch da hochqualifiziertes Personal erforderlich.

Mit dem Anstieg der krankheitsbedingten Fehlzeiten stehen die Spitäler vor einer Doppelbelastung. Eine hohe Anzahl an Erkrankten könnte das Funktionieren verschiedener Bereiche unserer Gesellschaft stärker unter Druck setzen als dies bislang der Fall war. Für private Unternehmen könnte die Omikron-Welle andere Herausforderungen mit sich bringen als frühere Wellen, die einen vorübergehenden Rückgang der Nachfrage zur Folge hatten. Diese Welle könnte sich viel stärker auf den Arbeitsmarkt auswirken und somit das Angebot verknappen, während die Nachfrage konstant bleibt. Für Unternehmen wäre es ratsam, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, damit sie auch dann funktionieren können, wenn ihnen ein wesentlicher Teil ihrer Arbeitskräfte vorübergehend nicht zur Verfügung steht. Damit würden sie nicht nur ihre eigenen Aktivitäten unterstützen, sondern auch dafür sorgen, dass die Rückkehr zur Normalität in unserer Gesellschaft möglichst reibungslos verläuft.

Eine hohe Fallzahl kann die Testkapazitäten überstrapazieren. Gleichzeitig können wir so nicht mehr rechtzeitig feststellen, wann wir mit Einschränkungen rechnen müssen. Dadurch erhöht sich auch das Risiko für diejenigen, die am stärksten gefährdet sind. Personen mit Immunschwäche oder die bereits durch andere Risikofaktoren gefährdet sind. Dies gilt insbesondere, wenn sie nicht immun sind oder auf eine dritte Impfdosis warten: Diese Menschen müssen geschützt werden. Da dies aufgrund unterschiedlicher Arbeitssituationen nicht für alle in gleichem Masse möglich ist, müssen diese Personen in bestimmten Fällen aktiv geschützt werden.

Was können wir tun, um den raschen Anstieg der Fallzahlen zu bremsen?

Wir alle kennen nun die Antwort und alle uns zur Verfügung stehenden Mittel wurden ausführlich beschrieben. Im Grunde geht es immer darum, unsere Kontakte zu reduzieren und bestehende Kontakte so sicher wie möglich zu pflegen: Selbsttests bereitstellen, in geschlossenen Räumen stets eine Maske tragen, für eine gute Belüftung sorgen. Durch diese Massnahmen lässt sich die Dynamik der aktuellen Welle zumindest verlangsamen. 

Um die aktuelle Welle zu brechen, sind mehr Drittimpfungen notwendig. Hier kommt es vor allem darauf an, dass schnell gehandelt wird.

Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf Kinder aus? Wie ich bereits erwähnt habe, lässt sich über einige der Auswirkungen von Omikron auf Kinder noch nichts Genaues sagen. Zu diesem Punkt übergebe ich das Wort an Alain Di Gallo:

 

Da die Swiss National COVID-19 Science Task Force per 31. März 2022 aufgelöst wurde, werden künftig keine weiteren epidemiologischen Lagebeurteilungen, wissenschaftlichen Updates oder Policy Briefs publiziert. Alle bisherigen Publikationen, Informationen und Seiten der Science Task Force stehen weiterhin auf dieser Website zur Verfügung.