31. Oktober 2020

 – Policy Brief

Gründe für eine substanzielle Erhöhung der Ressourcen für Contact Tracing und Testen

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Kurzfassung

Umfassendes Contact Tracing und Testen für COVID-19 sind entscheidende Komponenten der Test-Rückverfolgbarkeit-Isolation-Quarantäne-Strategie (TTIQ). Allerdings hinkt die Schweiz derzeit bei der Anzahl Tests hinter vielen anderen Ländern mit vergleichbarem Einkommen her und zahlreiche Kantone sind nicht mehr in der Lage ein genügendes Contact Tracing zu gewährleisten. Unzureichende öffentliche Finanzierung scheint hierfür hauptverantwortlich. Wir schlagen deshalb vor, dass sich der Bund deutlich stärker engagiert und gemeinsam mit den Kantonen unverzüglich die Mittel für eine substanzielle Ausweitung beider Aktivitäten bereitstellt. Im Sinne einer wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Betrachtung ist dies eine der wirksamsten und am wenigsten invasiven Massnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung der Pandemie. Die Aufstockung der öffentlichen Mittel für TTIQ stellt daher eine speziell zielführende wirtschaftspolitische Reaktion auf die Krise dar.

Haupttext

Es ist weithin anerkannt, dass Contact Tracing und Tests der Schlüssel zu einer erfolgreichen Bekämpfung der Pandemie sind (siehe z.B. den NCS-TF Policy Brief «Contact Tracing Strategy» vom 26. April). Jüngste Medienberichte und zahlreiche anekdotische Belege deuten darauf hin, dass viele Kantone angesichts des explosionsartigen Anstiegs der Fallzahlen nicht mehr in der Lage sind dieser Aufgabe genügend nachzukommen (siehe z.B. den SRF-Bericht vom 23. Oktober). Eine Mehrheit der Kantone scheint nicht mehr über die personellen Ressourcen verfügen, um etwa alle notwendigen Telefongespräche zu führen. Wenn es nicht wieder möglich ist, potenziell infizierte Personen umfassend und schnell zu alarmieren, wird es sehr schwierig werden, die Infektionsraten auf andere Weise als durch sehr strenge, und für die Wirtschaft kostspielige, soziale Distanzierungsmassnahmen zu senken.

Die gegenwärtige Situation impliziert, dass eine erhebliche Aufstockung der Finanzmittel und des Personals für die Ermittlung von Kontaktpersonen und auch für Tests eine «tiefhängende Frucht» im Kampf gegen die Pandemie ist. In einem kürzlich erschienenen Artikel schätzen die US-Ökonomen David Cutler und Larry Summers (2020), dass der wirtschaftliche Nutzen von Tests und Contact Tracing etwa 30 Mal grösser ist als die Kosten. Unser eigener Policy Brief über «Kosten der Ermittlung von Kontaktpersonen» (24. April) kam zum Schluss, dass die monatlichen Kosten von 2‘000 Contact Tracern etwa 0,5 Prozent der monatlichen Kosten einer teilweisen Sperrung, wie sie im März/April in der Schweiz verhängt wurde, betragen.

Jeder zusätzliche ins Contact Tracing investierte Franken ist daher in der gegenwärtigen Situation gut angelegtes Geld. 1 Im Vergleich zu allen anderen denkbaren Massnahmen hat dies zudem den Vorteil, dass es nicht interventionistisch ist und die Wirtschaftstätigkeit nicht unnötigerweise behindert. In Ländern wie Südkorea und Taiwan scheinen weit verbreitete Tests und Contact Tracing für die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie entscheidend gewesen zu sein (siehe Financial Times, 18. Oktober). Ein zusätzlicher Vorteil von Contact Tracing ist, dass es – wenn es mit der erforderlichen Sorgfalt und Kohärenz durchgeführt wird – eine wertvolle Informationsquelle für die Ausgestaltung künftiger Politikmassnahmen sein kann.

Da die Finanzierungsengpässe der Kantone ein zentrales Thema zu sein scheinen, schlagen wir vor, dass der Bund sich hier unverzüglich stärker engagiert, dies zu höchster Priorität erklärt und gemeinsam mit den Kantonen die notwendigen Mittel bereitstellt, um die Anstrengungen erheblich zu verstärken. Bei Bedarf könnten auch Mitglieder des Zivilschutzes (sehr kurzfristig) und des Zivildienstes (längerfristig) aktiviert werden. Es ist nicht stichhaltig, zu argumentieren, dass es angesichts des starken Anstiegs der Fallzahlen unmöglich sei, eine perfekte Kontaktverfolgung zu haben, die alle Fälle abdeckt.

Perfektion ist hier nicht das relevante Ziel; jeder verhinderte Superspreader und sogar jede verhinderte Infektion hat einen erheblichen (die Kosten übersteigenden) Nutzen für die betroffenen Individuen und – über die erheblichen externen Effekte – für die gesamte Gesellschaft. Die Kantonsregierungen werden die externen Effekte eines ungenügenden Contact Tracing (d.h. unerkannte Fälle werden in andere Kantone «exportiert») nicht vollständig internalisieren, was eine Koordination und zumindest teilweise Finanzierung durch den Bund auch gemäss einer finanzwissenschaftlichen Logik rechtfertigt.

Tests sind eine notwendige Ergänzung zum Contact Tracing. PCR-Tests auf das Vorhandensein von SARS-CoV-2 sind als zuverlässig bekannt und können dank der automatisierten Massenverarbeitung im Prinzip skaliert werden. Sie sollten im Kampf gegen die Pandemie eine zentrale Rolle spielen. Dazu kommen die Schnelltests, die seit kurzem verfügbar sind. Nehmen wir an, die Kosten für die Tests wären gleich null und die Tests würden in unendlicher Anzahl zur Verfügung stehen. In diesem Fall wäre es optimal, die gesamte Bevölkerung täglich zu testen, um infizierte Personen zu identifizieren und zu isolieren. Kombiniert mit einem schnellen und präzisen Contact Tracing (da die Tests in den ersten Tagen der Infektion nicht genügend sensitiv sind), könnte dies die Pandemie komplett eindämmen.

In der realen Welt sind Tests nicht gratis und können daher nicht ständig an allen Menschen durchgeführt werden. Ein realistischerer Ansatz wäre es daher, jede Person zu testen, die Grund zur Annahme hat, dass sie infiziert sein könnte. Solche Gründe können vielfältig sein – von «schwachen» Motivationen, wie z.B. einem mutmasslichen Kontakt mit einer potenziell infektiösen Person, bis hin zu «starken» Motivationen, wie z.B. eine ärztliche Überweisung aufgrund des Auftretens von für COVID-19 typischen Symptomen.

Wir haben in unserem Policy Brief vom 15. Mai argumentiert, dass Tests am Ort der Anwendung kostenlos sein sollten, und dass die Kosten vom Bund übernommen werden sollten. In Übereinstimmung mit dieser Empfehlung hat der Bund die Test-Kosten für vier Personengruppen übernommen (gemäss dem BAG «Faktenblatt»):

  • Personen mit COVID-19-Symptomen
  • Asymptomatische Personen, die eine Warnung vom SwissCovid-App erhalten haben
  • Asymptomatische Personen, die von den kantonalen Contact Tracing-Stellen als potenziell infiziert identifiziert wurden
  • Asymptomatische Personen, die von der kantonalen Gesundheitsbehörde aus anderen Gründen zu Tests überwiesen wurden.

Auch wenn dies ein grosszügiges Regime zu sein scheint, ist die Häufigkeit von Tests in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern gering geblieben. Eine aktuelle Datenanalyse (NZZ, 22. Oktober 2020) zeigt, dass zwischen April und Oktober 2020 kein anderes europäisches Land das Testen weniger ausgeweitet hat als die Schweiz. Bezogen auf ihr Pro-Kopf-Einkommen erscheint die Schweiz sogar als das Land mit der geringsten Anzahl von Tests unter den europäischen Ländern, für die Daten vorliegen. Jüngste Positivitätsraten von weit über 20% zeigen deutlich, dass unzureichend getestet wird.

Ausgedehntes Testen ist eine relativ billige Massnahme. Nehmen wir an, dass sich jeder Schweizer Erwachsene einmal im Monat testen lässt, und nehmen wir an, dass ein Test 170 CHF kostet (dies ist die derzeitige Entschädigung, die der Bund pro Test zahlt). Dieses hypothetische und extreme Szenario würde zu monatliche Gesamtkosten von knapp 1 Milliarde Franken führen. Doch im Vergleich zu den geschätzten monatlichen Kosten eines Lockdowns, die schnell in den zweistelligen Milliardenbereich gehen, sieht selbst ein solch extremes Testregime kosteneffizient aus.

Kurzfristig mag es Kapazitätsengpässe bei Reagenzien, spezialisierten Arbeitskräften und anderen Inputs für die Tests geben, aber angesichts der in der Schweiz verfügbaren Ressourcen und der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Risiken, die auf dem Spiel stehen, spricht vieles für eine beschleunigte Ausweitung der Testkapazität. Dies würde es den Menschen ermöglichen, sich testen zu lassen, sobald sie den geringsten Anlass zur Annahme haben, dass sie angesteckt worden sein könnten. In Dänemark, zum Beispiel, kann sich jeder und jede jederzeit testen lassen. Demenstprechend werden dort derzeit auch mehr als 2,5 Mal mehr Tests durchgeführt (pro 100‘000 Einwohner) als in der Schweiz.

Zusammenfassend geben wir die folgenden dringenden Empfehlungen ab:

  1.  Substanziell höhere Unterstützung der kantonalen Contact Tracing-Organisationen
    1. durch (Mit-)Finanzierung aus dem Bundeshaushalt und
    2. falls zusätzlich erforderlich, durch das Angebot von Arbeitskräften und anderen Ressourcen, z.B. aus dem Zivilschutz und dem Zivildienst.
  2. Prüfung von Möglichkeiten zur Ausweitung des Testens
    1. durch die (Mit-)Finanzierung einer Kapazitätserweiterung durch den Bund,
    2. durch Streichung der Bedingungen für den Zugang zu kostenlosen Tests, und
    3. durch pro-aktive Kommunikation, dass sich die Menschen «im geringsten Zweifelsfall testen lassen sollten».

1 In diesem Dokument konzentrieren wir uns auf die manuelle Kontaktfindung, d.h. den Prozess der raschen (!) Kontaktaufnahme von Personen nach Erhalt eines positiven Testergebnisses, um ihre jüngsten Kontakte («forward tracing») sowie andere potentiell infizierte Personen am ursprünglichen Infektionsort («backward tracing») zu ermitteln und diese Kontakte zu alarmieren, damit sie unter Quarantäne gestellt werden können. Digitales Proximity Tracing (z.B. durch die SwissCovid-App) ist ein wichtiges ergänzendes Instrument für eine effektive TTIQ.

Verwendete Literatur

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Date of response: 31/10/2020

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Expert groups and individuals involved: Economics

Contact persons: Marius Brülhart, Aymo Brunetti, Jan-Egbert Sturm

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