– Policy Brief –
Zusammenfassung
Das Tempo der Durchimpfungen ist entscheidend für die Frage, wann sich die Wirtschaftslage in der Schweiz wieder normalisiert. Beschleunigungen haben daher sehr positive gesamtwirtschaftliche Auswirkungen. Jeder Tag, an dem die Durchimpfung rascher erreicht wird, bringt der Schweiz in einer konservativen Schätzung einen Wertschöpfungsgewinn von 25 Millionen Franken. Gemäss epidemiologischen Szenarienrechnungen würde ein Einbezug der geringeren Fallzahlen in eine Gesamtbetrachtung den gesellschaftlichen Wert ungefähr verdoppeln. Auch scheinbar kostspielige Massnahmen zur Beschleunigung der Impfkampagne können deshalb ein gutes Nutzen-Kosten-Verhältnis haben.
Die Covid-19-Politik ist gespickt mit schwierigen, wenn nicht gar unmöglichen Güterabwägungen. Wie gewichtet man Menschenleben gegen Wirtschaftseinbruch? Wie berücksichtigt man psychisches Leid von nicht Erkrankten, und physisches Leiden von überlebenden Erkrankten? Ausser vielleicht in Akutphasen der Pandemie, wenn der Zusammenbruch des Gesundheitssystems droht, sind solch heikle Abwägungen unausweichlich (s. Bütler et al., 2020).
In einer Hinsicht stellt sich die Abwägungsfrage jedoch kaum: bei den Impfungen. Seit im Spätherbst 2020 bekannt wurde, dass mehrere im Rekordtempo entwickelte und geprüfte Impfstoffe wirksam vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen schützen, verfügen wir über ein Instrument, mit welchem die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden gleichermassen eingedämmt werden können. Wie stark die aktuellen Impfstoffe auch Ansteckungen reduzieren, ist noch nicht abschliessend belegt, aber es gibt auch in dieser Hinsicht Grund für Optimismus (Mallapaty, 2021).
Nicht einmal die Impfpolitik ist allerdings völlig frei von Abwägungen. Auch hier gibt es eine gesundheitliche und eine wirtschaftliche Dimension. In gesundheitlicher Hinsicht ist die Sorge über allfällige Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Angesichts der Phase-3-Prüfungen und der mittlerweile über 300 Millionen geimpften Personen weltweit sind systematische schwere Kurzfrist-Nebenwirkungen unwahrscheinlich.1 Naturgemäss waren Langzeitstudien noch nicht möglich. Erfahrungen von anderen Impfstoffen und virologische Überlegungen machen allfällige negative Langfristwirkungen unwahrscheinlich. Aber bis zum empirischen Beweis der Langzeit-Unbedenklichkeit von Covid-19-Impfstoffen wird die Impfpolitik wohl mit der Skepsis gewisser Bevölkerungsgruppen rechnen müssen.
In wirtschaftlicher Hinsicht gilt es, abzuwägen zwischen den Kosten der Impfkampagne und den Nutzen einer rascheren und breiteren Durchimpfung. Letztere wollen wir hier beleuchten. Es geht uns dabei um die Schätzung der möglichen Wertschöpfungsgewinne dank einer gegenüber einem Referenz-Impffahrplan beschleunigte Durchimpfung, und nicht um den allgemeinen, ohne Zweifel, viel höheren Wert der Impfungen an sich.
Im Vergleich zu einer imaginären Welt ohne Corona kommen wir in der Schweiz auf geschätzte BIP-Verluste von 3 Milliarden Franken pro Monat im Januar und Februar 2021.2 Das entspricht einem Wertschöpfungsausfall von 100 Millionen Franken pro Tag. Diese Verluste werden verursacht durch (a) international geschwächte Konjunktur und (b) staatliche Eindämmungsmassnahmen und spontane Verhaltensänderungen in der Schweiz. Grob geschätzt ist etwas weniger als die Hälfte (eine gewisse Unsicherheit besteht hier natürlich) des Gesamteffektes auf die internationale Konjunktur zurückzuführen. Wenn man nun also über Nacht alle Schweizer impfen würde, könnten wir ab morgen ca. 1.5 Milliarden Franken pro Monat oder 50 Millionen Franken pro Tag einsparen.
Da dies nicht machbar ist, müssen wir ein Impfszenario erstellen, das es erlaubt die staatliche Eindämmungsmassnahmen schrittweise zurückzunehmen. Zusammen mit einer wiedergefundenen Mobilität und Konsumneigung der geimpften Personen impliziert dieses Impfszenario einen graduellen Übergang zum wirtschaftlichen Normalbetrieb. Wir modellieren diesen Zeitpfad hier so einfach wie möglich. Als Ausgangspunkt nehmen wir das Szenario einer weitgehenden Durchimpfung (75% aller Erwachsenen, 5.3 Millionen Menschen) per Ende August.3 Zudem nehmen wir der Einfachheit halber an, die Durchimpfung und die Normalisierung des Wirtschaftslebens erfolgen linear, d.h. in einem stetigen Rhythmus, und nach Erreichen dieser Ziele seien die Kosten der verbleibenden Einschränkungen (Masken, Tests, Handhygiene, punktuelle Quarantäne, etc.) aus gesamtwirtschaftlicher Sicht vernachlässigbar.4 Schliesslich nehmen wir auch an, die wirtschaftlichen Einschränkung würden im Gleichschritt mit der Durchimpfung, d.h. linear, abnehmen.
Unter diesen Annahmen würden die Wertschöpfungsverluste über die sechs Monate von März bis August kumuliert zirka 4.5 Milliarden Franken betragen. Anders ausgedrückt: Der geschätzte wirtschaftliche Gewinn einer hypothetischen sofortigen Durchimpfung der Bevölkerung statt des stetigen Pfads bis Ende August würde in etwa CHF 4.5 Milliarden Franken betragen.
Eine realistischere Rechnung basiert auf der Überlegung, welchen Wertschöpfungsgewinn eine Beschleunigung der Durchimpfung nach sich ziehen würde. Wenn wir weiterhin von einem linearen Impf-Pfad ausgehen, dann impliziert jeder Tag, um den der Endpunkt der Impfkampagne gegenüber der sechsmonatigen Referenzperiode vorverschoben werden kann, eine Reduktion des kumulierten Wertschöpfungsverlusts um 1/183=0.55%. In Geldwert ausgedrückt wären das 25 Millionen Franken, die pro Tag, um den man die Impfkampagne beschleunigen kann, gewonnen würden. Wenn man die Durchimpfung einen Monat früher erreichen könnte, hätte man in etwa 750 Millionen Franken an direkter Wertschöpfung gewonnen. Umgekehrt ginge bei einer Verzögerung der Impfkampagne ein entsprechender Umfang an Wertschöpfung verloren.5
Unter der Annahme, dass für eine ausreichende Durchimpfung 5.3 Millionen Personen geimpft sein sollten, beträgt der Wert einer um einen Monat früher erreichten Durchimpfung rund 155 Franken pro geimpfte Person.6
Diese Zahlen beziffern nur die im engeren Sinne monetären Werte von gewonnener Wirtschaftsleistung. Die öffentlichen Finanzen würden ebenfalls profitieren, wenn man Kurzarbeit, Härtefällzahlungen etc. früher zurückfahren könnte.7 Für eine Gesamtbetrachtung müsste man zudem berücksichtigen, dass eine raschere Durchimpfung Menschenleben rettet, schwere Krankheitsverläufe verhindert und eine raschere Lockerung sozial und psychisch belastender Einschränkungen erlaubt. Gemäss Schätzungen anhand der epidemiologischen Szenarienrechnungen für die Schweiz (Shattock et al., 2021) wie auch gemäss internationalen Schätzungen (Castillo et al., 2021) würde ein Einbezug dieser zusätzlichen Aspekte den geschätzten gesellschaftlichen Wert einer rascheren Durchimpfung ungefähr verdoppeln.
Angesichts dieser Schätzungen ist klar, dass Massnahmen zur Beschleunigung der Impfkampagne einen hohen Nutzengewinn erzielen könnten. Selbst relativ kostspielige Bemühungen dürften dementsprechend ein deutlich positives Nutzen-Kosten-Verhältnis aufweisen. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, alle derartigen Möglichkeiten so rasch wie möglich auszuloten. Ein denkbarer Ansatzpunkt wären hier einerseits Investitionen, die darauf abzielen, auch jetzt noch die vorhandene Menge an Impfdosen zu erhöhen.8 Andererseits ginge es darum, die vorhandenen Impfdosen rascher einzusetzen, etwa durch Investitionen zur Beschleunigung der Logistik der Impfaktionen in den Kantonen, oder mittels grosszügigeren Entschädigungen für frühere Lieferungen von Impfstoffen und/oder Verabreichungen von Impfungen.9 Zudem gälte es jetzt bereits Überlegungen anzustellen zur Gewährung der Versorgungssicherheit im Falle künftig notwendiger Auffrischungsimpfungen (Booster) zur Wahrung der Immunwirkung und/oder als Reaktion auf neue Mutanten.
References
- BAG (2020) Covid-19-Impfstrategie. Bundesamt für Gesundheit und Eidgenössische Kommission für Impffragen (24.12.2020).
- BAG (2021) Änderung der Covid-19 Verordnung besondere Lage: Öffnungspaket II. Dokument für die Anhörung der Kantone zum Verordnungsentwurff EDI/BAG, Bundesamt für Gesundheit (12.3.2021)
- Boes, S., M. Brülhart, A. Brunetti, D. Dorn, R. Lalive, J.E. Sturm und B. Weder di Mauro (2021) Warum aus gesamtwirtschaftlicher Sicht weitgehende gesundheitspolitische Massnahmen in der aktuellen Lage sinnvoll sind. NCS-TF Policy Brief (7.1.2021).
- Bütler, M., et al. (2020) Is there a health-wealth tradeoff during the COVID-19 crisis? NCS-TF Policy Brief (18.8.2020).
- Castillo, J.C. et al. (2021) Market design to accelerate COVID-19 vaccine supply. Science (25.2.2021).
- Mallapaty, S. (2021) Can COVID vaccines stop transmission? Scientists race to find answers. Nature (19.2.2021).
- Rathke, A., S. Sarferaz, S. Streicher und J.-E. Sturm (2020) Szenario-Analysen zu den kurzfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. KOF Studies, vol. 148, ETH Zürich.
- Shattock, A.J., E. Le Rutte, R.P. Dünner, S. Sen, N. Chitnis, M.A. Penny (2021) Impact of vaccination and non-pharmaceutical interventions on SARS-CoV-2 dynamics in Switzerland, Swiss Tropical and Public Health Institute, University of Basel.
UK Government (2021) Coronavirus vaccine – weekly summary of Yellow Card reporting. Medicines & Healthcare Products Regulatory Agency (4.3.2021).
Liens:
[1] Eine akute allergische Reaktion (Anaphylaxie) kommt ein einer Frequenz von ca. 1:100’000 vor, und unter den nun üblichen Sicherheitsvorkehrungen ist auch bei dieser sehr seltenen Nebenwirkung praktisch niemand gestorben und auch nicht anhaltend zu Schaden gekommen (s. z.B. UK Government, 2021).
[2] Zur methodischen Grundlage dieser Schätzungen, s. Rathke et al. (2020).
[3] Gemäss BAG (2020, S. 9) gelten 75% als die «empfohlene Durchimpfung» einer gegebenen Risikogruppe. Kinder und Jugendliche sind derzeit von der Impfstrategie noch ausgeschlossen. Bei einer systematischen Impfung mit zwei Dosen würde dies die Verfügbarkeit von 10.6 Millionen Impfdosen bedingen, und es müssten im Durchschnitt zwischen 50’000 und 60’000 Impfungen pro Kalendertag verabreicht werden. Im vergangenen Monat, zwischen dem 10.2. und dem 10.3., wurden durchschnittlich knapp 20’000 Impfungen pro Kalendertag verabreicht. Unsere Berechnungen hängen nicht von diesem (etwas arbiträren) Ausgangs-Szenario ab: Solange wir einen linearen Zeitpfad der Durchimpfung annehmen, ist der berechnete tägliche Wertschöpfungsgewinn durch eine gegebene Impf-Beschleunigung unabhängig vom gewählten Referenzszenario.
[4] In der Wirklichkeit nimmt die Durchimpfung möglicherweise eher einen konvexen Verlauf, mit einem über die Zeit schneller werdenden Rhythmus (s. BAG, 2021); das Risiko einer starken dritten Welle könnte bei starker Konvexität relativ gross bleiben. Demgemäss wären auch die Lockerungsmassnahmen unregelmässig über die Zeit gestaffelt. Dies sollte nichts Wesentliches an unserer Berechnung ändern, solange eine Beschleunigung der Impfkampagne den ganzen Zeitpfad betrifft und nicht nur die Impf-Intensität in der Endphase. Im aus der aktuellen Warte eher unwahrscheinlichen Fall, dass die Rückkehr zu wirtschaftlichen Normalität grösstenteils bereits in der ersten Phase der Durchimpfungsperiode geschehen würde, wäre unsere Schätzung allerdings zu hoch.
[5] Dank der angenommenen Linearität des Impfpfades und der graduellen Rückkehr zur ökonomischen Normalität kann man den Wertschöpfungsausfall bis zur Durchimpfung als rechtwinkliges Dreieck darstellen, wovon die Zeitachse einerseits und der tägliche Wertschöpfungsausfall zu Beginn der Impfkampagne (50 Mio. Franken) andererseits die beiden Katheten bilden. Die Fläche dieses Dreiecks schrumpft bei einer eintägigen Verkürzung der Zeitachse um ½ x 50 Mio. = 25 Mio. Franken.
[6] Dabei ist berücksichtigt, dass per 7.3.2021 bereits 333’000 Personen vollständig geimpft und 952’000 Dosen verimpft sind (Fr. 155 = Fr. 750 Mio. / 4.824 Mio.).
[7] Schon die Zusatzkosten für die eben beschlossene Ausweitung der Teststrategie betragen rund 1 Mrd. Franken – mehr als die Gesamtausgaben für Impfstoffe. Diese Zusatzausgaben für Tests werden umso geringer ausfallen, je früher eine Durchimpfung erreicht wird.
[8] Der jüngst kommunizierte Vertrag mit Pfizer/Biontech für 3 Mio zusätzliche Dosen, davon 1 Mio geliefert bis Juni deutet möglicherweise auf ein gewisses Potenzial in dieser Richtung hin.
[9] Zu bedenken wären überdies Anpassungen bei der Staffelung oder Dosierung von existierenden Impfstoffen, anhand neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Eine solche Diskussion übersteigt den ökonomischen Rahmen dieses Dokuments.
Type of document: Policy Brief
Date of response: 15/03/2021
Experts involved: Economics, with input from Manuel Battegay
Contact persons: Marius Brülhart, Aymo Brunetti, Jan-Egbert Sturm