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Die Swiss National COVID-19 Science Task Force wurde am 31. März 2022 aufgelöst.

Sie wurde durch das Wissenschaftliche Beratungsgremium COVID-19 ersetzt, sodass die Kantone und der Bund weiterhin von der wissenschaftlichen Expertise im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Pandemie profitieren können.

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Beurteilung der Lage, 6. November 2020

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Intensivbettenkapazität

Zusammenfassung

Seit Anfang Oktober 2020 nimmt die Zahl der positiven Tests, Spitaleinweisungen, Patienten auf Intensivstationen und Todesfälle in der Schweiz zu, anfänglich mit einer Verdoppelungszeit von rund einer Woche. Das Gesundheitssystem in der Schweiz stösst an seine Grenzen, insbesondere was die Kapazität der Intensivstationen betrifft. Wenn die Zahl der belegten Intensivbetten weiterhin im gegenwärtigen Tempo wächst, dann werden die derzeit verfügbaren zertifizierten Betten in der Schweiz (rund 985 Betten) voraussichtlich bis am 10. November voll sein.

Um zu verhindern, dass diese Grenzen erreicht und überschritten werden, beziehungsweise um das Ausmass und die Dauer einer Überschreitung möglichst zu beschränken, muss die Schweiz die Zahl der täglichen Neuinfektionen so rasch wie möglich reduzieren. Dazu muss insbesondere die Reproduktionszahl Re deutlich unter 1 gesenkt werden.

Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt noch keine klare Evidenz dafür, dass die getroffenen Massnahmen genügen, um die Fallzahlen zu reduzieren und damit, zeitlich verschoben, auch eine Abnahme der Hospitalisierungen, der Patienten in Intensivpflege und der Todesfälle zu erreichen. Es besteht also noch immer das Risiko, dass das Gesundheitssystem bis an seine Grenzen ausgelastet oder sogar überlastet wird, im schlimmsten Fall in beträchtlichem Ausmass und über längere Zeit hinweg.

Wir schlagen eine Reihe von Massnahmen vor, um dieses Risiko zu mindern, das Gesundheitsystem zu schützen und negative Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft abzufedern. Diese Massnahmen umfassen:

  • Eine kontinuierliche Kommunikation mit allen Teilen der Bevölkerung, die deutlich macht, dass das gemeinsame Ziel sein muss, die Übertragung zu stoppen und die Zahl der Infektionen zu verringern.
  • Das Bereitstellen von konkreten und umsetzbaren Informationen für alle Teile der Bevölkerung darüber, wie Menschen sich selbst und andere bei der Arbeit und im sozialen Umfeld schützen können.
  • Den Ausbau der Kapazität des Gesundheitssystems durch den Verzicht auf die Belegung von IPS-Betten für Wahleingriffe und die schrittweise Erhöhung der Zahl von IPS-Betten mit angemessener Personalausstattung.
  • Die Verstärkung und Verschärfung bestehender Massnahmen (z.B. Home Office, weitere Beschränkungen der Teilnehmerzahl für Versammlungen und private Treffen) und Einführen zusätzlicher Massnahmen (z.B. vorübergehende Schliessung von Bars, Restaurants und nicht lebenswichtigen Geschäften, Verlagerung der nachobligatorischen Bildung ins Internet).
  • Das Fördern von Hygienemassnahmen (Soziale Distanz, Masken, Händewaschen). In Innenräumen lässt sich das Übertragungsrisiko durch regelmässiges Lüften und die Kombination von Maskentragen und Abstandhalten reduzieren.
  • Steigerung der Testkapazität und Intensivierung des Contact Tracings, um die Situation zu überwachen und Übertragungsketten zu unterbrechen. Die Erhöhung der Testkapazität und die Verbesserung des Zugangs zu Tests ist wesentlich, um die Entwicklung der Epidemie in der Schweiz verfolgen zu können.

Die wirtschaftlichen Kosten eines überlasteten Gesundheitssystems sowie die nachteiligen Auswirkungen der Unsicherheit, die eine längere Zeitspanne mit hohen Infektionsraten auf das wirtschaftliche Leben ausüben würde, könnten einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden verursachen (zusätzlich zum Reputationsschaden). Die gezielte Massnahmen, die erforderlich sind, um die Zahl der Infizierten, der Krankenhausaufenthalte und der Todesfälle zu senken, wären für die Wirtschaft sehr wahrscheinlich weniger kostspielig, trotz der öffentlichen Mittel, die benötigt würden, um von Schliessungen und Einschränkungen betroffene Unternehmen und Einzelpersonen zu entschädigen.

Epidemiologische Lage

Nach Ansicht der Expertengruppe Daten und Modellierung gibt es derzeit noch keine genügend gesicherte Evidenz, dass die Massnahmen zusammen mit einem veränderten Verhalten der Bevölkerung die notwendige Wirkung erzielen, um einen Rückgang der Neuinfektionen zu erreichen.

Auch wenn gewisse Indikatoren (wie z.B. der Rückgang der Mobilität in der Schweiz oder die Verlangsamung der bestätigten Fälle) anzeigen, dass die Massnahmen und das veränderte Verhalten der Bevölkerung eine Wirkung auf das Infektionsgeschehens haben, gibt es noch keine klare Evidenz, dass eine Trendwende erreicht wurde.

Alle vier auf Fallzahlen basierten Indikatoren (bestätigte Fälle, Hospitalisierungen, COVID-19 Patienten in Intensivpflege und Todesfälle) zeigen über die letzten zwei Wochen betrachtet einen signifikanten Anstieg (siehe Abbildung 1). Die Hospitalisierungen steigen langsamer als in den Vorwochen. Der Anstieg der belegten Intensivbetten hat sich leicht verlangsamt gegenüber der Vorwochen und der Schätzwert liegt nun bei einer Verdoppelung von 8.6 statt 7 Tagen. Die Todesfälle steigen derzeit weiterhin rasch an mit einer Verdopplungszeit von unter einer Woche. Die momentanen Indikatoren sind in etwa vergleichbar mit der Situation eine Woche nach Beginn des Lockdowns.

Diese Trends bilden nicht das heutige Infektionsgeschehen ab, sondern das Infektionsgeschehen im Durchschnitt vor 8 Tagen (bestätigte Fälle), 10 Tagen (Hospitalisierungen), 12 Tagen (Intensivbetten) und 17 Tagen (Todesfälle). Die Reproduktionszahl basierend auf unseren Daten vom 5.11. ist bis zum 26.10.2020 berechenbar, und für die Woche bis zum 26.10.2020 schätzen wir sie auf 1.19 [1.10-1.34]. Für die meisten Kantone berechnen wir eine Reproduktionszahl von deutlich über 1, für 6 der 7 Schweizer Wirtschaftsregionen liegt sie signifikant über 1 (Abbildung 2). Die letztmöglich berechenbare Reproduktionszahl, basierend auf der Zahl der Hospitalisierungen, betrifft den 21.10.2020 und wir schätzen diese auf 1.67 [1.56-1.77]. Diese Berechnungen sind ein erstes Indiz, dass die Massnahmen ab 18.10.2020 die Reproduktionszahl nicht umgehend auf unter 1 gebracht haben. Aufgrund einer möglicherweise kleineren Anzahl von durchgeführten Tests (Testpositivität momentan 20-35%) und einer Verzögerung bei den Spital-Meldungen wird die Reproduktionszahl möglicherweise unterschätzt. Auch verweisen wir darauf, dass Ende September schon einmal ein Rückgang in den bestätigten Fällen zu beobachten war, der dann allerdings nur von sehr kurzer Dauer war.

Einblick in das heutige Infektionsgeschehen können Mobilitätsdaten liefern. Verschiedene Mobilitaetsdaten (z.B. https://www.intervista.ch/mobilitaets-monitoring-covid-19/) zeigen eine kontinuierliche Abnahme der Mobilität ab der Woche vom 12.10.2020. Die Bevölkerung ist jedoch deutlich mobiler als während des Lockdowns.

Die Anzahl von COVID-19-Patienten in Intensivpflege ist derzeit der am genauesten gemessene Indikator. Dieser Indikator wird kontinuierlich (d.h. nicht nur täglich) aufdatiert und ist am wenigsten von Biases wie der Testpostivität abhängig. In Abbildung 3 zeigt die Bettenbelegung auf den Intensivstationen aufgeschlüsselt nach COVID-19-Patienten, und notfallmässig bzw. nicht-notfallmässig aufgenommenen Nicht-COVID-19-Patienten. Ausgehend von der derzeitigen Bettenbelegung werden drei Szenarien für die zukünftige Bettenbelegung erstellt. Zwei wichtige Punkte sind hervorzuheben: (i) Wir beobachten einen starken Rückgang der nicht-notfallmässigen Eingriffe, der schon zum heutigen Zeitpunkt eine Einschränkung der Qualität der medizinischen Versorgung der Bevölkerung darstellt; (ii) auch unter dem optimistischen Szenario der zukünftigen Bettenbelegung (Szenario A in Abbildung 3) wird die Auslastung der Intensivmedizin für mehr als 4 Wochen oberhalb von 825 IPS Betten liegen. Dies entspricht in etwa 93 % der von der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SSMI) zertifizierten Erwachsenen-Betten. Dieser Wert entspricht den Spitzenwerten in der ersten Welle und wurde während des Lockdowns im Frühjahr während nur 6 Tagen überschritten (wobei darauf verwiesen werden muss, dass zu diesem Zeitpunkt die Datenerfassung noch nicht so genau war wie heute). Für Szenario B würde diese 93-prozentige Kapazität sogar während 10 Wochen überschritten werden. In Szenario B werden die Intensivstationen überlastet sein und es wird zeitweise notwendig werden, die Hälfte aller Patienten durch Triage abzuweisen. In Szenario C wird aufgrund eines langsameren Anstiegs der Bettenbelegung zwar die obere Kapazitätsgrenze von 1400 belegten Betten nicht erreicht, aber aufgrund der langsameren Abnahme der IPS-Bettenbelegung wird sie über lange Zeit (>100 Tage) auf einem Niveau oberhalb der 93%-Kapazitätsgrenze verharren, bei welchem das Gesundheitssystem stark belastet ist, und nicht-notfallmässige Eingriffe auf lange Zeit vertagt werden müssen. Auch die notfallmässige ICU-Zuweisung von Nicht-COVID-19-Patienten würde entsprechend den Triagerichtlinien der SAMW beurteilt werden. Alle Szenarien gehen jedoch davon aus, dass in spätestens 2-3 Wochen eine Trendwende erreicht wird. Wie weiter oben schon hervorgehoben, ist diese Trendwende derzeit noch nicht erreicht, und es ist auch nicht sicher, dass sie in 2-3 Wochen erreicht sein wird.

Die aktuelle Einschätzung der epidemiologischen Lage ist derzeit wieder erschwert, weil die Erfassung der Anzahl der bestätigten Fälle, der Hospitalisierung und der Todesfälle mit Problemen behaftet ist. Dies ist einerseit auf die beschränkten Testkapazitäten und die zunehmende Testpositivität (20-35%) zurückzuführen und andererseits auf die Verzögerungen in der Datenerfassung. Wird dieses Problem nicht raschmöglichst gelöst, werden die Lagebeurteilungen den Effekt der eingeführten Massnahmen nur stark verzögert erfassen können.

Wirtschaftliche Perspektive

Aus der ersten Welle haben wir gelernt, dass Länder mit härteren Massnahmen nicht unbedingt einen grösseren wirtschaftlichen Einbruch erleiden müssen. Andererseits haben härtere Massnahmen oft die Mortalitätsrate tiefer halten können. Als Illustration kann der Vergleich zwischen Dänemark und Schweden angeführt werden. Beide Länder erlitten einen Rückgang des BIP im 2. Quartal von 7,7 Prozent. In Schweden wurden über 500 Corona-bezogene Sterbefälle pro 100’000 Einwohner registriert, in Dänemark mit deutlich restriktiven Massnahmen lag diese Zahl unter 60. Die meisten Länder sind wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Daher ist die internationale Situation, insbesondere für kleine offene Volkswirtschaften wie die Schweiz, entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung. Obwohl sich die Weltwirtschaft im dritten Quartal recht kräftig und stärker als erwartet erholte, war sie zu Beginn dieser nächsten Pandemiewelle noch weit davon entfernt, das Produktionsniveau von vor der Krise zu erreichen. Diese im historischen Vergleich grosse Unterauslastung drückt insbesondere auf die konjunkturreagiblen Schweizer Exportunternehmen. Selbst ohne angeordnete Betriebsschliessungen wird die Schweizer Wirtschaft über ihre Aussenbeziehungen und unter der negativen Wirtschaftsentwicklung in unseren Handelspartnern leiden. Zudem tragen Verhaltensänderungen der Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten im Licht des besorgniserregenden Anstiegs der Fallzahlen zu einem Rückgang der inländischen Nachfrage bei, allerdings wahrscheinlich weniger ausgeprägt als zu Beginn der ersten Welle. Mit anderen Worten: Auch ohne politische Restriktionen wird die Schweizer Wirtschaft im letzten Quartal dieses Jahres voraussichtlich wieder ein negatives Wachstum verzeichnen.

Während der ersten Welle hat der Bund schnell und angemessen gehandelt, und sowohl Individuen als auch Unternehmen dabei unterstützt, diese Periode zu überbrücken. International erhielt die Schweiz dafür viel Lob. Zu den bewährten Instrumenten gehörten die Ausweitung der Kurzarbeit, die Einführung der Erwerbsersatzordnung und die Bereitstellung des COVID-19-Kreditprogramms. Auch während der zweiten Welle ist es gesellschaftlich und wirtschaftlich angezeigt, die Betroffenen zu unterstützen, um später eine schnelle Erholung zu ermöglichen. Neben der schnellen Reaktivierung aller bewährter Instrumente braucht es im Hinblick auf die länger als erhoffte Dauer der Krise eine Anpassung der Instrumente. Wegen der höheren Verschuldung braucht es möglicherweise eine stärkere Unterstützung der langfristig überlebensfähigen Unternehmen. Andererseits sollten die wirtschaftlichen Unterstützungsmassnahmen den notwendigen Strukturwandel nicht verhindern.

Alle Massnahmen, welche die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränken, haben gesamtwirtschaftlich negative Folgen. Allerdings ist ein weiterhin ungebremster Anstieg der Fallzahlen ein noch gefährlicheres Gift für die Wirtschaft. Die steigenden Fallzahlen halten die Kunden fern – vielleicht etwas später als während der ersten Welle, dafür wahrscheinlich für einen längeren Zeitraum. Sie erhöhen zudem die Unsicherheit bei den Menschen und Unternehmen massiv und schaden dem Vertrauen in Politik und Gesellschaft. Viele wissenschaftlichen Studien belegen, dass auch dies eine starke Belastung für die Wirtschaft bedeuten kann.

Das Fazit bleibt, dass die Schweiz die Pandemie dauerhaft unter Kontrolle bringen muss, sowohl aus sozialer als auch aus wirtschaftlicher Sicht. Natürlich ist es wünschenswert, dieses Ziel mit Instrumenten und Massnahmen zu erreichen, die so wenig wie möglich in das tägliche Leben und die Wirtschaft eingreifen. Deshalb gehören angeordnete Betriebsschliessungen zu den letzten Massnahmen, die angeordnet werden sollten. Gleichzeitig ist die Bereitstellung von öffentlichen Mitteln zur Bekämpfung der Pandemie zentral: auf Grund der bisherigen wissenschaftlichen Evidenz kann erwartet werden, dass dies Investitionen mit hoher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Rendite sind.

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